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Deutsche Noman-Bibliothek.
ernstlich böse, ergriff aus dem Gewimmel die beiden Unbändigsten und drückte sie stark auf das lebendige Knäuel der Uebrigen. Die unten Liegenden, Gequetschten strebten mit allen Gliedern, sich aus der unbequemen Lage Zu befreien; die austretenden Füße klatschten gegen die Seitenwünde, daß das Schiff in allen Fugen krachte.
Es war mehr, als der alte Ilo ä'Italia vertragen konnte. Eine der Planken gab nach und durch die entstandene Lücke gurgelte das Wasser. Die Knaben, noch immer am Boden durcheinander kollernd, spürten sofort die unwillkommene Befeuchtung; alle rafften sich Zugleich in die Höhe und nach einigen rasch gewechselten Worten stürzte sich das ganze Rudel mit Geschrei kopfüber in die Flut, als Letzter der kleine Vermiether des lecken Bootes. Jetzt erst bemerkte Arthur den angerichteten Schaden und sah die Wasser des Luganer Sees unaufhaltsam einrinnen. Er warf einen ängstlichen Blick ans die schwimmende Knabenschaar; es fehlte keiner; sieben schwarze Köpfe glitten über den blauen Spiegel dem User zu; durch das Krystall der Flut sah er die Buben mit froschartiger Behendigkeit die Beine regen. Es war Arthur klar, daß diese amphibienähnliche Brut seiner Hülfe nicht bedurfte; aber nicht minder gewiß war's, daß auch ihm -ein kaltes Bad bevorstand, denn in dem beschädigten Fahrzeug stieg das Wasser mit großer Schnelligkeit. Umblickend, sah Arthur den Engländer gemächlich heranrudern; er rief ihm zu, sein Schiff sinke, und that noch einige kräftige Schläge dem nunmehr stark Ausholenden entgegen. Aber der Ils ä'ltUM tauchte unter Arthur vollständig in den See, ehe der Retter herankommen konnte, und der Hinausgespülte mußte etwa eine Minute lang seine Schwimmkunst ansüben, ehe der Engländer ihn zu sich in's Boot zog. Halb ärgerlich, halb lachend nahm Arthur Platz auf der Ruderbank, drohte mit der Faust nach dem Ufer hinüber, wo soeben der Kleinste der Knaben sich prustend ausschüttelte, und trieb dann mit wuchtigen Schlägen die rettende Barke nach Lugano hinüber. Die Anstrengung machte ihn bald warm genug, und als er sein Hotel erreicht und sich in trockene Kleider geworfen hatte, war er sicher, keine Erkältung davongetragen zu haben.
Fünftes Kapitel.
Rückfälle.
Vor Tafel besuchte Arthur seine kranke Cousine, die im halbdunklen Zimmer aus dem Sopha ruhte und geduldig auf das Entweichen ihrer Kopfschmerzen wartete. Wie der Vetter den langen Tag hingebracht habe, verlangte Klara zu wissen.
„Mit Verrichtung von unglaublichen Thaten," entgegnete Arthur. „Ich habe einem italienischen Baby das Laufen beigebracht und sieben Knaben nebst meiner Wenigkeit Zu einem Bade im See ver- holfen."
Er mußte ausführlich erzählen. „Ich werde an mir selbst irre," schloß er. „Wäre mir's wohl jemals eingefallen, auf der Bai von New-Pork ein halbes Dutzend ungewaschener Knaben, von der Straße zusammengelesen, in einem halbverfaulten Boote spa
zieren Zu fahrend Ebensowenig, wie in einem Cirkus als Parforcereiter aufzutreten. Hier aber erscheint das Unglaublichste natürlich. Es ist etwas in der Luft, das wie ein berauschender Trank wirkt. Schon gleich heut Morgen, als ich umschauend über den See glitt, während Herr Notting schweigsam ruderte, begann dieses Etwas meine Gedanken zu verwirren. Denken Sie, Cousine, es stiegen mir ernstliche Zweifel daran auf, ob es wirklich die Bestimmung des modernen Menschen sei, Patente auszunehmen, Fabriken Zu errichten, Telegramme abzusenden und zu empfangen und mit einer politischen Partei durch Dick und Dünn zu gehen. Ja, mehr noch: mir kam es so vor, als ob der Müßiggang doch nicht das ver- dammenswerthe Laster sein möge, wofür ich ihn bisher gehalten. Ich werde es aber niemals weit darin bringen; es gehört angeborenes Talent dazu, und das fehlt mir."
Klara mußte über dieß wunderliche Bekenntniß lächeln. „Am Ende doch wohl nicht," meinte sie. „Wer weiß, welche Gaben Sie noch bei sich entdecken, ehe der Frühling, den wir hier hinter uns lassen, uns im Norden wieder einholt! Merkwürdig aber ist es," fuhr sie sinnend fort, „ daß Ihnen eine Stimmung wie Ihre heutige so durchaus neu und' fremd ist. Haben Sie denn immer dasselbe Empfinden, am Morgen wie am Abend, einen Tag wie den ändernd Haben Sie niemals etwas vom Wechsel der Stimmungen an sich erfahrend"
„Stimmungen? Nicht daß ich wüßte; auch trage ich kein Verlangen darnach. Stimmungen sind Krankheitssymptome, Anzeichen einer unruhigen Säfte- mischnng, einer gestörten Funktion der Nerven. Sobald bei uns Einer Spuren von Sentimentalität zeigt, sich in Gedichte vertieft oder über Problemen grübelt, die ihn nichts angehen, schickt man einen Arzt zu ihm, und die Bekannten meiden ihn so lange, bis er kurirt ist und er wieder nur an sein Gewerbe denkt und was damit zusammenhäugt."
Klara sah den Offenherzigen still und ernsthaft an.
„O, ich weiß," rief Arthur aus, „Sie halten mich für nicht viel besser als einen Barbaren! Man spottet über uns Amerikaner in Europa; mit unserer Bildung sei es nicht weither, sagt man; für geistige Dinge fehle uns das tiefere Verständniß. Unser Betragen wird bemängelt; unsere gesellschaftlichen Formen nennt man roh; der Besitz von Zartgefühl wird uns abgesprochen. Ist es nicht so?"
Als Klara mit der Antwort zögerte, fuhr er fort: „Sie brauchen mir nicht zu bestätigen, was ich weiß. Meinetwegen mag es so'sein, meinetwegen mögen wir Alle diese Fehler haben und eine Reihe anderer dazu; dennoch steckt in eben denjenigen Eigenthümlichkeiten unserer Nation, die in euren Büchern, euren Theaterstücken mit grenzenloser Selbstüberhebung getadelt und karikirt werden, die undefinirbare Qualität des Volkscharakters, durch welchen wir groß geworden sind."
„Ich kann heute nicht mit Ihnen streiten, Vetter," erwiederte Klara, mit der Hand nach der Schläfe fahrend. „Später werde ich Sie einmal bitten, mir zu erklären, worin diese Größe besteht."
Arthur ging, geärgert durch den Spott, der in Klara's letzten Worten lag. Während der Mahlzeit