Die tolle Betty von Hans Wachenhuscn.
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wollen, nicht wieder gekommen, und wer hätte sich sonst in die Dachstube verirren sollen, um mit Rath und That zur Hand zu sein! Egon, obgleich versöhnt und der Schwester wieder vertrauend, litt nicht, daß in seiner Gegenwart vom Theater gesprochen werde; es müsse sich ja ein anderes Unterkommen für sie finden.
So saß sie denn aussichtslos sinnend, als gegen Mittag die Glocke draußen in dem kleinen Gang gezogen wurde.
Eine korpulente Männergestalt präsentirte sich ihr, als sie zaghast öffnete; das Antlitz desselben aber übte eine so erschreckende Wirkung auf sie, daß sie mit leisem Ausruf zurückfuhr.
„Ich bin Ihnen gewiß überraschend, mein Fräulein, " führte sich der massive Herr ein, mit Artigkeit den Hut zieheud. „Sie durften mich allerdings wohl am wenigsten erwarten..." Er schob sich während seiner Rede vorwärts und stand jetzt vor ihr mitten im Zimmerchen. „Es ging mir schlecht; was soll ich mich lange entschuldigen! Sie werden aber dießmal mit mir zufrieden fein . . . Sie erlauben wohl . . . Die vier Treppen!" Keuchend ließ er sich nieder.
Lola hatte noch keine Sprache gefunden; sie suchte den entferntesten Stuhl uud sank mit bleichem Gesicht auf diesen, denn der Fremde war kein Anderer als ihr Theaterdirektor.
„Ich komme von Wien und bringe Ihnen etwas, das" — er blickte in dem ärmlichen Gemach umher — „Ihnen wohl nicht unwillkommen sein wird. Mein Freund Gianetti nämlich schickt mich, der berühmte Impresario, der jetzt den gefeierten Virtuosen Balsado führt. Sie erinnern sich; er war im Sommer einmal bei uns, war so entzückt von Ihrer Stimme und schien große Dinge mit Ihnen vorzuhaben. In Wien fragte er mich nun kürzlich nach Ihnen und vorgestern ließ er mich rufen; ich solle eiligst Ihre Wohnung in Berlin auskundschaften, trug er mir auf, und Sie wo möglich gleich mit mir nehmen."
Lola's Augen hafteten argwöhnisch auf ihm.
„Ich begreife Wohl, daß Sie das überrascht," fuhr Sauerland fort, sich den Schweiß von der Stirn wischend, „aber besinnen Sie sich nur nicht lange; es ist Ihr Glück und wird Ihnen nicht wieder geboten. Er schwört auf Ihre Stimme, wenn sie noch so ist, wie er sie im Sommer gehört, und er will natürlich auch sicher gehen. Er hat deßhalb den Agenten S. telegraphisch beauftragt. Sie erst vor ihm und einigen Sachverständigen hier singen zu lassen..."
Lola, die inzwischen Mnth gefaßt, erblaßte, als sie den Namen hörte.
„Wenn es Ihnen möglich ist, kommen Sie gleich mit mir zu ihm; er hat auch Auftrag, Ihnen das Weitere mitzutheilen und Ihnen das Reisegeld aus- znzahlen. So viel ich verstanden, hat Gianetti die Absicht, Sie in Mailand von Lamperti ausbilden zu lassen; das kostet ihn viel Geld, aber der weiß immer, warum er etwas thut, obgleich er sich auch schon geirrt hat. Uebrigens hat er Eile, denn er muß Ende der Woche mit Balsado weiter nach Warschau und Petersburg. Versäumen Sie also Ihr Glück nicht."
Mit bedrängtem Athem, vergeblich suchend, das Ueberraschende zu bemeistern, fand Lola kein Wort. Endlich sprach sie, seinen Blick vermeidend, noch immer mißtrauend:
„Was Sie mir mittheilen, ist mir allerdings so unerwartet. Ich darf auch nicht ohne die Mutter..."
Sauerland zuckte die Achsel.
„Als Sie bei mir waren, hatten Sie auch keine Mutter um sich ... Aber wir haben bis zum Abend Zeit. Ich muß nur an Gianetti telegraphiren, daß ich Sie gefunden und ob Sie kommen werden... Nicht wahr, Sie kommen?"
Sauerland sprach das Letzte in so Vertrauen einflößendem Ton, daß ihr doch das Herz groß ward. Erst jetzt wagte sie, sich vorzustellen, was eigentlich ihr geboten ward, und heiß stieg's ihr aus der Brust auf.
Das war ja Alles, was sie ersehnt! Das Schicksal sandte ihr denselben Mann, der ihr so weh gethan . . . Aber wenn er wieder log wie damals? Ein schwerer, anklagender und mißtrauender Blick traf Sauerland. Der aber lächelte phlegmatisch, zog ein Papier hervor, erhob sich schwerfällig und reichte es ihr.
„Mein schriftlicher Auftrag von Gianetti!"
Lola las. Sie reichte ihm das Papier zurück.
„Ich danke Ihnen, Herr .. . Direktor!" Ihr war das Herz plötzlich so voll und doch so leicht; es ging vor ihren Augen auf wie eine lichte, freudvolle Zukunft. Ihr winkte ein Ziel, das sie erstreben konnte: man reichte ihr die Hand, nach der sie vergebens gesucht!
„Also ich darf telegraphiren, daß Sie kommen?" fragte er.
„Ja!" Die Antwort klang zitternd, wie ein Seufzer, aber sie kam ans hochbewegter, übervoller Brust.
„So bin ich in einer Stunde wieder zurück; ich will dem Agenten sagen, daß er Sie erwarten soll." Sauerland reichte ihr die Hand und Lola war wieder allein.
Vor Freude schluchzend, kniete sie vor dem Stuhl nieder und barg das thränenfeuchte Antlitz im Taschentuch. So fand sie die Mutter, der sie sich plötzlich laut aufjubelnd in die Arme warf.
„Mutter," rief sie, als sie ihr erzählt, „ich habe Dir mit tausend Thränen abgebeten, was ich Dir an Kummer bereitet, aber siehst Du, wie der Himmel das Alles gelenkt? Was ich in meinem Trotz und Ungehorsam that, Gott läßt es hoffentlich zu einer guten Ernte aufgehen!"
Frau Gabriele vermochte nur fromm und dankbar die Hände zu falten und diese dann auf des Mädchens Scheitel zu legen.
„Zieh' mit Gott, mein Kind, wenn es Dein Glück ist!" flüsterte sie. „Egon bleibt mir, und so kann ja Alles wieder gut werden!"
Egon, als er am Mittag kam, hörte die große Neuigkeit anfangs schweigend. Er sprach auch nichts dagegen, als er die Sache überlegt, nur als er in fein Zimmer ging, brummte er vor sich:
„Also doch wieder das verfluchte Theater!"
Ruhiger betrachtet, schien ihm indeß die Sache