Die tolle Kelly von Hans Wachenhusen.
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Der alte Meister ward unruhiger, als er auch seines Lieblings steigende Ungeduld sah. Mit keinem Wort hatte er der schönen Fremden zu erwähnen gewagt; aber es kam die Zeit, da er zurück mußte um seiner Schüler willen, und der eine hier machte ihm all' die Sorge, mehr noch als zu Anfang, seit er dieses junge Weib gesehen.
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Die absolute Ruhe, zu der ihn sein Zustand verurtheilt, hatte inzwischen auch Camill zum ersten Male die Muße zur Einkehr in sich selbst, zu einem Rückblick auf die so schnell und stürmisch durchlaufene Bahn gegeben.
Dieses halbe Jahr seiner ersten Kunstreise war für ihn nichts als ein buntes, rauschendes Wandelbild gewesen. Von Stadt zu Stadt hatte ihn der Mann geschleppt, dem er verdankte, was er als Künstler war, ihm keine Rast gönnend, geizend um jeden Abend, seine Agenten vor sich herjagend, die überall das Feld bereiteten, die Presse für seine Zwecke mobil machten, das Publikum in die nöthige Spannung versetzten, und wenn der von Ort zu Ort gehetzte Künstler eintraf, galt es, ohne Rücksicht aus seine eigene Stimmung, die hochgeschraubten Erwartungen zu erfüllen, und erst, nachdem er vor den ihm Zujubelnden, ihn mit Huldigungen Erdrückenden seine Schuldigkeit gethan, mochte er geistig und körperlich erschöpft die Ruhe suchen.
Aber wie so schnell waren ihm alle diese Ovationen zur Gewohnheit, zur Last geworden, als die kühnsten seiner Jugendträume, die ihn unter des Meisters Leitung oft mit Bangigkeit für die Zukunft erfüllt, schon auf den ersten Etapen seiner Bahn sich bewahrheiteten und die Furcht vor der ihm lauschenden Menge von ihm gewichen, als er seine Kräfte kannte.
Es war kein Ringen mehr, denn man nannte ihn in seiner Jugend schon den Meister, den König der Geiger; es war ein athemloses Dahinstürmen, in welchem ihm die Ansprüche der Gesellschaft an seine Person und die unerbittlichen Forderungen seines Impresario keine Zeit mehr zu eigenem künstlerischem Vorwärtsstreben gestatteten. Gianetti hatte ihn als vollendeten Künstler aus der Hand des Meisters empfangen und begehrte von ihm die Früchte für seine Opfer.
„Wie ein Tanzbär an der Leine meines Führers bin ich!" sagte er sich oft, wenn er sich ermüdet auf sein Lager streckte. „Sobald er die große Trommel schlägt, muß ich mich erheben und die Kunststücke machen, die mich der Meister aus seine Kosten gelehrt; und ach, diese Virtuosenkunststücke müssen es gerade sein, die am meisten den Beifall der Menge finden, während ich für eigenes, ernstes Lernen keine Minute behalte!"
Er hatte Pinelli, wenn dieser bei ihm saß, oft darüber geklagt und der hatte ihm selbst zugegeben: „Dein Unterricht hätte während der letzten Jahre durch mich eine ganz andere, klassische Richtung bekommen, aber Gianetti's Wunsch war es so, und da es einmal so sein mußte, so ward es mein Ehrgeiz, Dein schönes Talent in seinem Sinne auszubilden. Ein Jahr ist ja so bald dahin; gönne Dir darnach Ruhe, Dich in Deinem Interesse weiter zu bilden und die Meisterschaft auch nach der Richtung
zu gewinnen, die Dir als wahrem Künstler vorschweben muß. Es ist der Frohndienst für den Ruhm," ermuthigte ihn der Alte. „Hat Dich die Welt erst anerkannt, so steht es bei Dir, den Virtuosen abzustreifen, Dir als Meister Deine eigene Schule zu gründen, Dir Deine Apostel zu suchen und — o, das ist ja mein Traum seit lange! — meinen Lehrstuhl einzunehmen, wenn mein Arm zu schwach geworden. Nimm die Welt, wie sie ist; lerne, was ihr schmeichelt, und thue darnach, was Du Deiner Kunst schuldest. Inzwischen folge Gianetti; er ist kein guter Mensch, und dennoch hat Mancher Ursache, ihm zu danken, weil er ihn geschaffen; vor Allem aber meide die Verführung, die Dich ableiten und lähmen könnte im Erringen Deines Zieles."
Das Letztere war immer das Schlußwort in des Meisters Rede gewesen, jetzt aber, da er den Schüler so groß, so schön wiedersah, war's nur die stumme Bitte seiner Augen, die Camill verstand und doch so schnell, so undankbar vergessen.
Auf den ersten Schritten schon, die er selbstständig in die Welt hinausgethan, hatte ein Paar verführerischer Mädchenaugen, noch schuldlos und unerfahren, und dennoch heiß, mit dem Ausdruck kindlichen Hingebens und doch mit dem Verlangen nach Erwiederung sich auf ihn geheftet; diese Augen, die er täglich Wiedersehen mußte, als man ihn vergötternd in die Gesellschaft zog, hatten immer auf ihm in stiller, fast anbetender Bewunderung geruht; sie hatten ihn geflohen, wenn sie den seinigen begegneten, und dann waren auch letztere der anmuthigen Mädchengestalt mit der unwiderstehlichen Anmuth der Jugendfrische und dem unwillkürlich hinreißenden Zauber gefolgt, bis an jenem Abend das künstlerische Zusammenwirken mit diesem so bestrickenden Wesen seine Sinne vollständig berauscht und er hinausgetaumelt, um sie, träumend wie er, in der Einsamkeit der wonnigen Mondnacht zu finden.
Was da geschehen, daran trugen Beide wohl gleiche Schuld. Des Meisters Warnung hatte ihn spät in der Nacht ans seinem Lager wach gerufen. Aber es war etwas über ihn gekommen, das ihm die Brust so übervoll machte; das schönste Weib war sein, schöner als alle die braunen, warmblütigen Geschöpfe, die in seinen Jünglingsjahren aus ihn geschaut, ihn belauscht, wenn er die tiefste Einsamkeit des Gartens gesucht, um seine Kunst Zu üben.
Aber anstatt der Befriedigung, welche erhörte Liebe einflößt, empfand er Vorwurf, als der Morgen kam und er vor seinem Fenster auf jene verschwiegene Stätte des Gartens schaute. Er hatte Unrecht gethan an sich, an ihr, er, ein ruheloser Mensch im Dienst eines unerbittlichen Mannes! Die eine selige Stunde, die zum ersten Mal das Glück der Liebe seinem Herzen vergönnt, war verronnen; Gianetti war an jenem Morgen, als der Traum ihn noch umfing, zu ihm herangetreteu, um ihm eine Reihe von Städten zu nennen, die im Sturm erobert werden sollten; er hatte ihm die Stunde der Abreise verkündet und ihn dann mit sich sortgeschleppt, ihm kaum die Möglichkeit eines Abschieds gönnend.
Das Bild dieses Mädchens zog wohl mit ihm über die Alpen, aber vergessen wollte, mußte er!