allein darüber herznmachen wagte er nicht, denn es herrschte ja heute eine förmliche Aufregung in Burgsdvrf und die Frau Mama war äußerst ungnädig gestimmt. Zum Glück kehrte sie schon nach Verlauf von einigen Minuten zurück, und diesmal lag auf ihrem Gesicht der hellste Sonnenschein.
„Die Sache ist in Ordnung," sagte sie kurz und bündig. „Er hält seinen Jungen in den Armen und der hängt an seinem Halse, und das weitere wird sich nun schon von selbst machen — !
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Gott sei Dank! Und nun kannst Di: auch Dein Vesperbrot essen, Willy, die Konfusion, die uns die ganze Hausordnung gestört hat, ist zu Ende."
Willy ließ sich das nicht zweimal sagen und machte schleunigst von der ertheilten Erlaubniß Gebrauch. Wallmoden schüttelte aber den Kopf und sagte halblaut:
„Wenn sie nur auch wirklich zu Ende ist!"
(Fortsetzung folgt.)
K ermann Lingg.
enn wir im vorigen Jahre eine Reihe von Dichtern die Grenzlinie der Siebziger überschreiten sahen, so bringt uns dies Jahr bald nach seinem Beginn ein neues „Dichterjubiläum"; man darf es wohl so nennen, denn die Feier des siebzigsteil Geburtstages ist zu einer Art von Jubelfeier für die Dichter geworden, denen dieses Lebensalter zu erreichen vergönnt ist. Ein bedeutender Poet, Hermann Lingg, geboren am 22. Januar 1820, feiert an diesem Tage im Jahre 1890 seinen siebzigsten Geburtstag.
Die Erlebnisse Linggs haben durchaus nichts Wechselvolles, nichts, was über ein ruhiges, den Musen geweihtes Dasein hinausginge. Seine Geburtsstadt ist Lindau im Bodensee; er besuchte das Gymnasium zu Kempten, studierte seit 1837 in München, Berlin, Prag und Freiburg Medicin, war zwei Jahre Armenarzt in München lind ließ sich dann als Militärarzt anstellen; als solcher nahm er seinen Aufenthalt abwechselnd in Augsburg, Straubing und Passan. Einen ihm bewilligten Urlaub benutzte er zu einer Reise nach Rom und Neapel, welche seine Phantasie mit einer Fülle voll Anschauungen befruchtete, denen er später dichterische Gestalt verlieh. Im Jahre 1851 nahm er seinen Abschied aus Gesundheitsrücksichteil, wohl auch, um ganz der Muse leben zu können, die ihn scholl seit längerer Zeit mit ihrer Gunst erfreute und die sich in den Militärlazarethen schwerlich heimisch fühlen konnte. Seitdem lebt er in München. Köllig Maximilian II., der ja eine dichterische Tafelrunde um sich versammelte, gab ihm eill Jahrgehalt, und Emanuel Geibels Freundschaft ging ihm zur Hand, als er im Jahre 1851 die erste Sammlung seiner Gedichte veröffentlichte. Sie erregten alsbald Aufsehen, und schon seit jener Zeit zählt Linggs Name zu den gefeierten Dichternamen Deutschlands. Auf dem Gebiete lyrischer Dichtung, auf dem er seine ersten Lorbeeru errungen hat, blieb er unermüdlich thätig und seine Schöpferkraft versiegte bis in das höhere Alter nicht. Der erstell Sammlung seiner „Gedichte" folgte eine zweite (1868), der zweiten eine dritte (1870); es erschienen 1869 „Vaterländische Balladen und Gesänge", im Jahre 1878 die Gedichte „Schlußsteine", 1885 die Sammlung „Lyrisches", und jetzt eben hat die Cottasche Verlagsbuchhandlung zur Jubelfeier des Dichters einen neuen Band Gedichte unter dem Titel „Jahresringe" her- ausgegeben. Hermann Lingg hat in diesen späteren Sammlungen keine neuen Bahnen (ungeschlagen, wenn er auch mit vielen neuen trefflichen und köstlichen Kleinodien den Juwelenschrein seiner Dichtung bereichert hat. Es liegt keine Entwicklung vor, der man Schritt für Schritt folgen müßte; man zieht die Summe seines dichterischen Schaffens, wenn man alle diese Sammlungen gleichzeitig ins Auge faßt und die überall gleichmäßige Eigenart seines Talentes in ihrer steten Erneuerung und Verstärkung beleuchtet.
Hermann Lingg gehört zu den Poeten, die sich durch großartigen Gedankenschwung auszeichnen; er ist in erster Linie Oden- nnd Hymnendichter, vbschon er nur selten die Versmaße des Alterthums nachgekünstelt hat. Seine Bedeutung aber liegt darin, daß er das solcher Dichtung entfremdete Publikum der Gegenwart für dieselbe gewonnen hat; denn das Los schwunghafter Gedankenpoeten ist sonst meistens Vereinsamung. Wenn Lingg mit einzelnen seiner Gedichte, trotz ihrer geistigen Tiefe und Schwere, in das Volk gedrungen ist, so ist er dadurch wahrhaft in die Fußtapfen Schillers getreten.
Linggs Gedichtsammlungen machen den Eindruck eines Pantheons, in welchem die Götter aller Völker in Gebeten und Hymnen gefeiert werden; seine Poesie hat etwas Seltsames, Fremdartiges, etwas vom Wundervogel Phönix, und wie dieser sich sein Nest aus würzigen Myrrhen baut, so baut sie es sich aus Sagen von exotischen! Duft. Die eigentliche Heimath der Lingg-
schen Muse ist das Alterthum; ja er greift in die vorsündslnthliche Zeit zurück in der Gedichtgruppe „Weltleben", in der „Elefantenwanderung", und seine Phantasie weilt bei der Erdgeschichte, ehe die Geschichte der Menschen beginnt. Doch die graue Sagenwelt ist ihm nicht bloß ein geheimnißvoll beleuchtetes Gewölle, dessen dämmrigen Zauber er festzuhalten sucht; jene Sonne der Wahrheit, die allen Zeiten leuchten soll, bricht auch dort mit ihren Strahlen durch. So tönt aus Dodonas heiligen Eichenwäldern ein Orakel, das noch in der Gegenwart ein Echo wecken soll:
„Von Aegyptens Pyramiden Bis zn Delphis Priesterin,
Bis zn Ganges' Tempelsrieden Herrsche einer Lehre Sinn:
Trost zn spenden, Schmerz zn lindern,
Licht zn wecken weit und breit,
Freiheit allen Erdeutinderu,
Freiheit, Liebe, Menschlichkeit."
In „Niobe" ist die Gestalt der jammernden Mutter dem Kreise des Griechenthums entnommen und zn allgemeiner Bedeutung vertieft worden; es ist die uralte Mutter aller Völker, welche über den Brudermord derselben klagt. In dein „Gesang der Titanen" spricht sich der Trotz auf das irdische Glück aus gegeuüber dem Zoru der Götter. In der dritten Sammlung ist ein Gedicht den unheimlichen Jungfrauen, den Harpyen, gewidmet; diese greifenklauigen Sagenheldinneu werden tiefsinnig als Hüterinnen eines Reiches der Ausgestvßenen dargestellt:
„Und zu ihnen kommt, wer flüchtig ans der Heimath irren muß,
Wen die Menschheit ansgestoszen, oder Lebensüberdruß;
Elternlose, bleiche Kinder, schuldlos wie im Paradies,
Die kein Vaterland mehr haben, die das eigne Blut verfließ.
Dahin kommen stolze Frevler, Geister, die zn kühn und groß Allzufrüh von: sichern Ufer banden ihre Schiffe los,
Abgehau'ne Heldenzweige eines einst berühmten Baums,
Träumer, die zn tief geschlafen auf den Kissen ihres Traums."
Doch nicht bloß der alten Sage, auch der altem Geschichte Roms und Griechenlands hat Lingg zahlreiche Stoffe entnommen, von „Spartacus" in der ersten Sammlung, einen! wilden Kampf ruf des Sklavenaufstandes, bis zu „Alexanders Tod zu Babylon" und den: Gedichte „Korinth", einem düster beleuchteten Bild der von den römischen Legionen eroberten und geplünderten Stadt. So wandert seine Muse auch durch das Mittelalter und die Neu zeit; doch diese reiche und bunte Stoffwelt ist kein ordm xioOm. kein locker zusammengeheftetes Bilderbuch; es ist der Geist des Denkers, der sich in die Rüthsel der Geschichte vertieft, der Fernes und Nahes verknüpft. Sinnbildlich dafür mag das Gedicht „Die Römerstraße" sein, wo der Dichter an der von den Römern erbauten Straße steht und die Kohorten gepanzert vvrüber- ziehen sieht:
„Da plötzlich ruft ein Laut Nlich wach,
Ein Erzgedröhn auf nahen Gleisen —
Ich steh'' am Kreuzweg; hier durchbrach Ten Römerpfad der Pfad von Eisen.
Und donnernd rollt der Wagenzug Vorbei den alten Meilensteinen,
Wie Blitz des Zeus und Geisterflug,
Der Erde Völker zu Vereinen."
Der tiefere Sinn und der große geschichtliche Geist hob gleich die ersten Gedichte Linggs ans der Menge heraus in einer Zeit lyrischer Verschwommenheit; sie befreiten das Gemüth von dem Druck enger und kleinlicher Empfindungen. Einzelne von ihnen hatten den genialen Wurf, der sie dem Gedächtniß einprägt. In der reinen Höhe seines denkenden Geistes fallen die Schranken der Zeitalter; von dem schwerterklirreuden Schlachtgewühl des Trasimenischen