Heft 
(1890) 34
Seite
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besonderer Anstalten für Tuberkulöse zu sorgen. Die Frage wurde der städtischen Deputation für Gesundheitspflege vorgelegt (30 Mitglieder) und von dieser einem Unterausschuß von Sachver­ständigen zur Berathung übergeben. Dieser Ausschuß hatte nun der Deputation für Gesundheitspflege folgende Erklärung vorge­schlagen:Mit Rücksicht auf die große und voraussichtlich zu­nehmende Zahl der chronischen Brustkranken, welche in die städti­schen Kranken- und Siechenanstalten ausgenommen werden müssen, ist die Errichtung einer besonderen Heil- und Pflegeanstalt für Lungenkranke in der Umgebung der Stadt dringend wünschenswertst"

Erst am 22. Oktober 1880 kam dieser Vorschlag zur Be­schlußfassung vor die städtische Deputation für Gesundheitspflege, und merkwürdigerweise wurde in derselben fast einstimmig beschlossen, die ganze Angelegenheit auf etwa ein Jahr zu vertagen. Als Grund hierfür wurde angegeben einmal die Rücksicht auf die großen anderweitigen gesundheitlichen Aufgaben, welche die Stadt Berlin in der nächsten Zeit zu erfüllen habe, sodann die Ansicht der in dem Unterausschuß anwesenden Aerzte, daß die Zahl der Ansteckungen mit Schwindsuchtsgift im Verhältniß zu der großen Anzahl Lungenkranker doch eine ganz außerordentlich geringe sei. Ein dem Ausschuß ungehöriger Oberarzt eines der größten Berliner Krankenhäuser habe geltend gemacht, daß er.tausend und mehr Tuberkulöse behandelt habe, ohne je einen vollständig sicheren Fall von Ansteckung festgestellt zu haben.

So werthvoll dieses Geständniß gerade für die Sonderheil­anstalten für Lungenkranke ist, und so sehr diese Erfahrung mit meiner eigenen übereinstimmt, so wenig berührt diese Begründung den Kern der Angelegenheit. Denn es sollen nicht Bolksheilstätten für Lungenkranke gebaut werden, um die Gesunden vor Ansteckung zu bewahren das erzielt man viel billiger und einfacher durch die Vernichtung des tuberkulösen Auswurfes -.sondern um die von der Tuberkulose Befallenen zu heilen. Obgleich nun auch in gut geleiteten allgemeinen Krankenhäusern Besserungen Vorkommen nach Angabe des oben erwähnten Krankenhausoberarztes bis zu 32,7o/o so besteht in solchen Krankenhäusern doch der große Uebelstand, daß Lungenkranke nicht gern lange in denselben be­halten werden. Nach dem Geständniß eines andern Berliner Krankenhausleiters werden den von akuten Leiden wie Typhus, Lungenentzündung und andern befallenen, aber durchweg heilbaren und der ärztlichen Fürsorge während der verhältnißmäßig kürzere Dauer ihres Leidens weit bedürftigeren Kranken gegenüber die Lungenschwindsüchtigerr mehr oder weniger vernachlässigt und, weil sie den nöthigen Platz für Schwerkranke wegnehmen, zu zeitig entlassen. Daß es da bald wieder beim alten sein wird, ist ja selbstverständlich, und es verringert sich damit der Prozentsatz der dauernd Gebesserten bis auf ein verschwindendes Maß.

Von der städtischen Deputation für Gesundheitspflege auf ein Jahr zurüägestellt, wurde die Frage der Errichtung voll Schwindsuchtsheilstätteu für Unbemittelte vom Geheimen Rath Professor Leyden in der Sitzung desVereins für innere Medizin" vom 20. Januar dieses Jahres wieder vor einer andern, ledig­lich ärztlichen Hörerschaft auf die Tagesordnung gebracht, um eine lebhafte Erörterung hervorzurufen. Heyden gesteht ebenfalls, daß mit Arzneimitteln gegen die Schwindsucht nichts auszurichten sei, sondern daß der Schwerpunkt der Behandlung in dem h y gieinisch-diäte tischen Verfahren zu suchen sei, jenem Ver­fahren, welches den Körper zu kräftigen und widerstandsfähig zu machen bestrebt ist, damit er die Krankheitserreger nach und nach zu überwinden und auszuscheiden befähigt wird. Ferner gesteht er, daß nur die Tuberkulösen in den vorgeschrittenen Krankheits­stufen und mit schweren Nebenerkrankungen in Hospitälern behandelt werden können und sollen, daß aber die Mehrzahl der Tuberkulösen in den gewöhnlichen Krankenhäusern nicht in solcher Weise be- ^ handelt werden können, welche geeignet ist, die überhaupt erreich­baren Erfolge bei ihnen auch wirklich zu erzielen. Die Behandlung der Tuberkulösen in besonderen Heilanstalten sei ein wesentlicher Fortschritt der Neuzeit. Auch bespricht er dann die Ansteckungs­gefahr der Schwindsucht und ist ebenfalls der Ansicht, daß die­selbe in gut geleiteten Anstalten mit Sicherheit vermieden werden könne.Nach Beseitigung dieser Bedenken," sagt er,steht die Anstaltsbehandlung wieder in vollstem Ansehen, woran sich der j Wunsch knüpfen muß, die Vortheile einer solchen Behandlung ! einer größeren Zahl dieser unglücklichen Kranken zugänglich zu machen, und zwar entspricht es den großen menschenfreundlichen

Bestrebungen unserer Zeit, diese Vortheile nicht bloß wie bisher i den besser gestellten Ständen, sondern auch den weniger be ! güterteu Gesellschaftsklassen zugänglich zu machen."

! Am Schluffe seiner Rede kommt er darauf zurück, daß es ^ zweckmäßig und erfolgreich sein würde, wenn von ärztlicher Seile ^ die Anregung zur Errichtung solcher Heilanstalten in der Umgebung ! Berlins, in welcher es gewiß an den geeigneten Räumlichkeiten nicht fehle, in die Hand genommen würde.

An diesen Bortrag schloß sich in den folgenden Sitzungen vom 3. und 20. Februar eine Besprechung, aus welcher zunächst leider zu ersehen war, daß, trotzdem Berlin durch seine neueren hygieinischeu Einrichtungen zu einer sehr gesunden Stadt geworden ist, in welcher die Sterblichkeit der Bevölkerung vom Jahre 1873 bis 1885 von 29,7o/oo auf 21,3 0/00 heruntergegangeu ist, doch die Tuberkulose sich in Bezug auf ihre tödlichen Ausgänge in nichts gebessert habe; im Gegentheil starben im Jahre 1876 219, im Jahre 1885 aber 283 auf das Tausend der Gestorbenen an Schwindsucht, das heißt in einen: Jahre in Berlin alleil: 1472 Personen. Und was sagte im Laufe der Verhandlung einer der Redner?Was thun wir im allgemeinen der tuberkulösen Erkrankung gegenüber? Wir lassen es so gehen, wie es Gott gefällt . . . Durch die Einrichtuug von Heilstätten für Tuberkulöse wird man dem Elend der Armuth entgegenarbeiten und den Kranken für sich, für seine Familie und für den Staat erhalten."

Ein anderer Redner meinte:Vor der Entdeckung des Tuberkel bacillus ist die Ansteckungsgefahr unterschätzt worden, jetzt wird sie überschätzt. Alle für dieselben beigebrachten Gründe sind rein theore­tischer Natur." Und ein anderer forderte, man solle die Kranken nicht nach dem Süden verschicken, weil sie im Eisenbahnwagen und in den Gasthöfen meist ein recht trauriges Dasein führten. Schließlich gelangte folgender Antrag zur Annahme:Ter Verein für innere Medizin beauftragt seinen Vorstand, sich mit den Vorständen anderer Vereine in Verbindung zu setzen, um die Gründung von Heilanstalten für Schwindsüchtige in der Nähe von Berlin zu bewerkstelligen." Damit ist diese wichtige Angelegenheit in guten Händen.

Ich habe den Verlauf der Verhandlung in: BerlinerVerein für innere Medizin" zuerst geschildert, da diese die letzte Kundgebung in dieser Beziehung ist und aus der Hauptstadt des Deutschen Reiches kommt. Vorher schon hatte Professor Finkelnburg aus Bonn in der Generalversammlung des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege an: 2. Dez. 1889 zn Düsseldorf einen Vortrag gehalten:lieber die Errichtung von Volks

sanatorien für Lungenschwindsüchtige", in welchem derselbe ebeiu falls, ausgehend von der Nutzlosigkeit aller gegen die Lunge:: schwindsucht neuerdings empfohlenen Mittel und von der erschreckend großen Verbreitung der Schwindsucht in Rheinland und Westfalen,

! wo zwischen 18,1 0/0 bis 61 0 / 0 , in einigen Berufsklassen, z. B.

^ unter den Appreteuren in Crefeld, bis zu 92 0/0 aller Todesfälle ! auf die Tuberkulose treffen, für die Errichtung von Bolksheilstätten ^ für Lungenkranke lebhaft eintritt. Auch Professor Finkelnburg betont die Ungefährlichkeit des Tuberkelparasiten gegenüber ge sunden Menschen mit Ungeschädigten Organen, die Unzulänglichkeit, ja geradezu Kärglichkeit der den unbemittelten Lungensüchtigen Deutschlands gewidmeten Krankenhauspslege, beweist diese seine Behauptung durch Zahlen, welche feststellen, daß im ganzen Deutschen Reiche auf je 100 Aufnahmen in die allgemeinen Kranken­häuser nur 1 0/0 Lungenschwindsüchtige kamen, und verlangt an: Schluffe seiner lehrreichen und vom edelsten Geiste getragenen Rede ein thatkräftiges Vorgehen in erster Reihe seitens der Ge meindeverwaltungen, insbesondere der größeren Städte, und der Krankenkassenvereine, denen größere Verwaltungsverbände, die Provinzial- und die Staatsbehörden zum Vortheil des Gemein­wohls mithelfend zur Seite stehen müßten. Erst nach einem thatkräftigen Vorgehen dieser berufenen Vertretungen öffentlicher Fürsorge sei bestimmt zu erwarten, daß auch die Privatwohlthätig keit einen: so menschenfreundlichen Unternehmen ihre Unterstützung zuwenden werde. Noch auf einen besonderen Punkt in der Rede Professor Finkelnburgs möchte ich hier aufmerksam machen. Er weist nämlich den zu errichtenden Anstalten für unbemittelte Lungenkranke noch einen erziehlichen Zweck zu, indem er am nimmt, daß durch die mit Strenge durchgeführte Gewöhnung ihrer Pfleglinge an vorsichtige Behandlung des Auswurfes und, wie ich hinzufügen möchte, an natürliche Lebensweise, an Luft und gesunde Kost allmählich eine Aufklärung und eine Erziehung