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weiterer Volksschichten außerhalb der Anstalten, zur richtigen Pflege lungensüchtiger Kranken sich ergeben werde. Anstatt zu Ansteckungsherden der Krankheit zu werden, dürften diese Anstalten im Gegentheile Ausstrahlungspunkte einer geregelten Verhütung der Ansteckungsgefahr auch im Familienleben werden.
Nur einen Monat später, am 3. Januar 1890, hielt der — von dem Kehlkopfleiden des Kaisers Friedrich her bekannte —- Professor vr. Schrötter in Wien im „Wissenschaftlichen Klub" daselbst einen Vortrag „lieber die Tuberkulose und die Mittel zu ihrer Heilung". Er weist zunächst darauf hin, daß in Wien durchschnittlich täglich 15 Menschen derselben zum Opfer fallen, was im Jahre etwa 5500 macht, also an sich und im Verhältniß zur Zahl der Todesfälle überhaupt viel mehr als in Berlin. Wien ist recht eigentlich eine Schwindsuchtsstadt, in ihr fallen — statt wie anderswo — aller Menschen, also 25 ^ der Schwindsucht zum Opfer, und selbst die Wiener Aerzte nennen die Schwindsucht die „Wiener Krankheit". Besonders in den Armen- und Arbeitervierteln haust dieselbe schrecklich. Ferner huldigt auch Schrötter wie wohl zur Zeit mit Recht alle erfahrenen Forscher der Annahme, daß sich der schwindsüchtige Mensch zur Zeit der Ansteckung unter ganz besonders günstigen Bedingungen zur Aufnahme der kleinen Lebewesen, also in einer zeitweilig besonders gesteigerten Empfänglichkeit befunden habe. Also auch Schrötter kommt ohne die Annahme einer angeborenen oder ererbten besonderen Veranlagung nicht aus. Besonders neigt er -— das sei hier nur nebenbei bemerkt — der Ansicht zu, daß viele Erkrankungen an Schwindsucht in vorgerückterem Alter von einer aus der frühesten Kindheit herstammenden, aber Jahre lang ohne alle äußere Anzeichen bestehenden tuberkulösen Entartung der Lymphdrüsen ausgehen, woraus wir den Schluß zu ziehen haben, daß Kinder, auf denen der Verdacht ruht, mit tuberkulösen (fkrophulösen) Drüsenherden behaftet zu sein, ganz besonders reichlich ernährt und durch sorgfältige Abhärtung widerstandsfähig gemacht werden müssen. Dies gilt besonders für die Zeit der Entwickelung.
Nachdem Schrötter sodann noch einige Worte über die nvth- wendigen Vorbeugungsmittel gesprochen und der Vernichtung der Auswurfstoffe Erkrankter das Wort geredet hat, gelangt er zu der Beantwortung der Frage: „Was haben wir nun aber mit dem einmal erkrankten Individuum zu thun? Ist die Tuberkulose heilbar?"
„Glücklicherweise unzweifelhaft ,jw," lautet die Antwort. Aber Tausende von Mitteln und Verfahrnngsweisen sind als sichere Heilmittel gepriesen worden, keins hat dem vorurteilsfreien, unparteiischen Prüfen der Wissenschaft ständhalten können . . . „Eines aber hat sich unter allen Umständen als sicherstes Heilmittel erwiesen, nämlich die möglichste Hebung der Ernährung und Kräftigung des Organismus, und um diese zu erzielen, der reichlichste Aufenthalt in reiner Luft mit allen Anregungen, welche durch eine solche auf unfern Körper gegeben sind. In diese Bahn müssen wir somit unsere ganzen Bestrebungen lenken." Und nun kommt er ebenfalls zudem Schluffe, daß es nothwendig sei, für die 3400 mittellosen Schwindsüchtigen Wiens, welche die allgemeinen Krankenhäuser bevölkern, eigene Heilanstalten zu errichten, während man es den Wohlhabenden überlassen könne, nach dem Rathe ihrer Aerzte Kurorte oder Sonderheilanstalten für Lungenkranke aufzusuchen. Die Kosten der Errichtung solcher Pflegestätten für unbemittelte Lungenkranke können nicht in Betracht kommen, wo es sich um das Wohl von Tausenden handele, von denen dem Staate eine große Menge erhalten werden könne. Auf dem Südende der englischen Insel Wight, in Undercliff, bestehe seit 21 Jahren eine solche für 280 unbemittelte Kranke bestimmte, in einer überaus reichen Weise ausgestattete Anstalt. Die Sterblichkeit in derselben betrage nur 3,8 o/o. Auch in Wien sei ein Verein in der Gründung begriffen, der sich zur Aufgabe stelle, Gleichgesinnte herbeizuziehen, um die nöthigen Mittel aufzubringen. An der Spitze desselben stehen die Direktoren der 3 größten Krankenanstalten Wiens.
Soweit Schrötter.
Es war mir eine große Genugthuung, den geneigten Lesern in kurzem Auszuge die Ansichten dreier so hervorragender Gelehrten, an drei verschiedenen Universitäten mittheilen zu können. Noch mehr Genugthuung gewährt es mir, daß es überall Aerzte sind, welche die Anregung zu einem so durchaus menschenfreundlichen'Werke öffentlich gegeben haben.
Gemeinsam heben alle drei Redner hervor:
n) Die Tuberkulose ist zwar ansteckend, aber ihre Ansteckungs- fähigkeit wird bei weitem überschätzt.
5) Die Tuberkulose ist heilbar, aber nicht durch eines der hundert gegen dieselbe angepriesenen Mittel, sondern nur durch dauernden Aufenthalt in reiner Luft und Kräftigung des gestimmten Organismus.
e) Das wird am besten erreicht in Sonderheilanstalten für Tuberkulöse, die aber durchweg nur den Bemittelten zugänglich, sind; deshalb
st!) ist es nothwendig, Volksheilstätten für unbemittelte Lungenkranke in der Nähe der großen Städte zu errichten.
Möge die fast gleichzeitig von drei Seiten ausgegangene Anregung auf fruchtbaren Boden fallen!
Wer meinem Berichte .aufmerksam bis hierher gefolgt ist und auch meinen Artikel in Nr. 34 der „Gartenlaube" von 1882 gelesen hat, dem muß es aufgefallen sein, daß keiner der drei angeführten Redner dafür eingetreten ist, solche Anstalten im Gebirge zu errichten. Dies wird verständlich aus dem Zwecke, den dieselben verfolgen. Es sollen die allgemeinen Krankenhäuser der großen Städte von den Schwindsüchtigen entlastet und letztere in möglichster Nähe derselben in besonderen Anstalten untergebracht werden. Da empfiehlt es sich allerdings schon der bedeutend vermehrten Kosten wegen nicht, die Schwindsuchtsheilanstalten für Unbemittelte weit ab von den Städten im Gebirge zu errichten. Sodann aber ist nicht zu verkennen, daß die neuen theoretischen Erwägungen, nach denen zur Heilung von Schwindsucht nur reichliche Ernährung und reine Luft nöthig fein sollen, der Errichtung von Gebirgsheilanstalten nicht förderlich sein können. Und doch wird in wenigen Jahren nach Inbetriebsetzung der Niederungsheilanstalten für Lungenkranke ganz gewiß ein gründlicher Wandel der Ansichten stattfinden, wenn man erst durch die Erfahrung und durch Zahlenausweise gefunden haben wird, wie viel weniger Besserungen und Heilungen in denselben zu erzielen sind, als in Gebirgsheilstätten. Angenommen auch, das Waldgebirge enthalte nichts in sich, was in besonderer Weise auf die Besserung einer schwindsüchtigen Lunge wirkt: weder der geringere Atmosphärendruck, noch die größere Dünne der Ein- athmungsluft, weder die große Menge des in der Luft enthaltenen Ozons, noch die durchweg günstigeren Grundwasserverhältniffe, weder die stärkere Besonnung im Winter, noch der größere Schutz gegen starke Luftströmungen zu allen Jahreszeiten/ weder die größere Kühle der Luft im Sommer, noch die größere Beständigkeit des Klimas im allgemeinen, noch sonstige günstige klimatische Umstände seien einzeln oder in ihrer Gesammtheit ausschlaggebend für die vorzüglichen Erfolge der Waldgebirgsheilanstalten; zugegeben ferner, der Begriff der Sicherheit gewisser Orte gegen Tuberkulose sei hinfällig und zur Heilung von Schwindsucht nur die dauernde Einathmung reinster Luft und reichliche Ernährung Vonnöthen, so frage ich: wo,in aller Welt giebt es reinere Lust/verbunden mit größerem Schutz gegen etwaige Unbilden der Witterung, als im waldreichen immergrünen Gebirge, und wo entwickelt sich ein solch riesiger Appetit und infolge dessen ein solch rascher Neuaufbau des lungensiechen Körpers wie eben dort? Wie oft habe ich es nicht erlebt, daß selbst Schwerkranke von der ersten Stunde des Aufenthaltes in. der Gebirgsanstalt an einen Appetit entwickelten, über den sie sich so freuten, daß sie dies Ereigniß telegraphisch der besorgten Mutter mittheilten, die seit Monaten sich vergebens abmühte, dem Kranken ihre mit eigener Hand bereiteten kräftigen Speisen und Leckerbissen aufzunöthigen! Bei minder schwer Kranken tritt ein solcher Appetit ohne Ausnahme sofort ein. Man soll die Einrichtung von Heilanstalten für unbemittelte Lungenkranke in der Umgebung großer Städte um keinen Preis hindern. Aber man vergesse nicht, bewaldete- Höhen zur Anlage zu wählen, wenn sie nahe genug liegen. Denn ich bin aus fast zwanzigjähriger Erfahrung mit I)n. Volland in Davos der noch durch keine stichhaltigen Gründe widerlegten Ansicht, daß es nicht allein darauf ankommt, wie, sondern insbesondere wo der Lungenkranke behandelt wird, und daß bei ins Belieben gestellter Auswahl eines Ortes immer und unter allen Umständen einer geschlossenen Heilanstalt im Waldgebirge der Vorzug zu geben ist. Den Höhenanstalten für Lungenkranke gehört nach wie vor die Zukunft.