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Gegen den Winter, seine Kälte und seine Stürme sucht man den Tschum durch eine außen übergebreitete, aus dem Leder abgetragener Pelze zusammengenähte Decke oder noch besser dadurch zu schützen, daß man einen zweiten Mantel ans Birkenrindentaseln über den ersten breitet.
Ist der Tschumbesitzer Fischer, so sieht man außen vor dem Tschum Trockengerüste zum Aufhängen der Netze und solche zum Dörren der Fische, sehr sauber gearbeitete, ungemein leichte und kunstvolle Reusen, mehrere unübertreffliche kleine Boote und sonstige Fischereigeräthe; ist er auch Jäger, dann allerlei Fangwerkzeuge, Stellbogen und als Selbstschüsse wirkende Armbrüste; ist der Tschumwirth Renthierhirt, dann mehrere sorgsam gearbeitete Schlitten nebst dazu gehörigem Geschirr und einem auch für ihn unerläßlichen Boote.
Jeder Ostjake ist des Fischfangs kundig, fast jeder auch Jäger oder Fallensteller, nicht jeder aber Wanderhirt. Nenthiere besitzen, bedeutet unter unserem Völkchen ebensoviel als wohlhabend sein, einzig und allein von der Fischerei leben müssen, das Gegentheil. Pferde und Rinder sieht man in sehr geringer Anzahl Zwar auch in einzelnen ostjakischen Niederlassungen, aber nur in denen des mittleren Stromgebietes, Schafe und vielleicht sogar eine Katze werden hier ebenfalls dann und wann gehalten; die eigentlichen Hausthiere der Ostjaken aber sind Nenthier und Hund. Ohne sie, zumal ohne Renthier, vermeint der wohlhabende Mann nicht leben Zn können; und sie allein ermöglichen ihm thatsächlich.das, was er Freude des Daseins nennt.
Nach der Anzahl der Renthiere schützt der Ostjake den Besitz eines Menschen, in den Renthieren sieht er seinen Reichthum, sein Glück. Daher verliert er nicht allein dieses wie jenen, wenn die würgende Seuche seine Herden vernichtet, sondern noch weit mehr: Ansehen und Rang, Selbstbewußtsein und Zuversicht, ja seinen Glauben, seine Sitten und Gewohnheiten, sich selbst.
„So lange die Seuche unsere Herden noch nicht heimsuchte," sagte uns der Gemeindevorsteher Mamru, der verständigste Ostjake, welchen wir kennengelernt haben, „lebten wir freudig und waren wir reich; seitdem wir unsere Renthiere verloren, werden wir allgemach zu armen Fischern; wir können ohne sie nicht bestehen, ohne sie nicht leben!"
Arme Ostjaken! — mit diesen Worten ist euer Geschick ausgesprochen. Schon gegenwärtig sind die einst nach Hunderttausenden zählenden Renthiere auf fünfzigtausend zusammengeschmolzen, und nach wie vor, alljährlich fast, wüthet der Würgengel unter den geweihtragenden Herden.
Das nordasiatische Renthier ist ein von dem lappländischen wesentlich verschiedenes Geschöpf; es ist nicht allein größer und stattlicher, sondern auch ein Hausthier im besten Sinne des Wortes; dort, in Lappland, ein ewig widerstrebender, mit ersichtlichem Unwillen unter das Joch des kleinen Mannes sich beugender, unablässig auf Wiedererlangung der Freiheit bedachter Hirsch, hier in Sibirien ein folgsames, williges, an dem Menschen hängendes, ihm vertrauendes Thier. Freilich weiß der Ostjake auch vortrefflich mit ihm umzugehen. Er behandelt es zwar nicht mit der Zärtlichkeit, mit welcher er den Hund hätschelt, aber im ganzen doch auch nicht unfreundlich und nur sehr ausnahmsweise derb oder roh. Abweichend von dem Lappen, verzichtet er darauf, es zu melken, spannt es aber dafür viel regelmäßiger ein als dieser, denn es muß ihn und seine Familie, den Tschum sammt Zubehör und alle übrigen auf der Wanderung zu bewegenden Lasten im Sommer wie im Winter von einer Stelle zur anderen befördern, wogegen es der Lappe nur im Winter zum Ziehen benutzt. Das Fleisch des geschlachteten Thieres dient zur Nahrung, die Knochen und Geweihe liefern allerlei Geräthschaften, die Sehnen Zwirn zum Nähen der Kleider, Haut und Fell diese selbst und was sonst noch aus Leder gefertigt wird; selbst die Hufe finden Verwendung. Mit dem Renthier fährt der Ostjake, auf seinem leichten Schlitten sitzend, im Sommer wie im Winter von Ort zu Ort, mit ihm zur Brautschau, zu Festlichkeiten, zur Jagd, zum Be- gräbniß seiner Freunde; mit ihm fährt er seine Todten zur letzten Ruhestätte; das Renthier schlachtet und verspeist er, um seine Gäste und seine Todten zu ehren; in seine Felle hüllt er die letzteren wie sich selbst. Gewiß, er kann ohne das Renthier nicht bestehen, nicht leben!
Kaum minder wichtig als seine geweihtragende Herde ist ihm sein Zweites Hausthier, der Hund. Ihn besitzt, ihn hegt und
pflegt nicht allein der Wanderhirt, sondern jeder Ostjake überhaupt, der Fischer ebenso gut wie der Jäger, der seßhafte wie der nmher- schweifende Mann. Der ostjakische Hund gehört zwei verschiedenen, hauptsächlich jedoch nur hinsichtlich der Größe von einander abweichenden Rassen an. Ob unsere Liebhaber ihn schön finden würden, vermag ich nicht zu sagen; ich meinestheils muß ihn schon aus dem Grunde für schön erklären, weil er, mit alleiniger Ausnahme der Färbung, noch alle Merkmale des wilden Hundes besitzt. Am meisten kommt er mit unserem Spitz überein, er ist' aber gewöhnlich größer als dieser, nicht selten so groß, daß er kaum oder nur wenig hinter dem Wolfe zurücksteht; auch sein schlankerer Bau Zeichnet ihn vor dem Spitze aus. Der Kopf ist gestreckt, die Schnauze mittellang, der Hals kurz, der Leib lang, die Gliederung schlank, der Schwanz mittellang, das erzfarbene Auge schief geschlitzt, das kurze, spitzige Ohr aufrecht gestellt, das Fell außerordentlich dicht und lang, die Färbung verschieden, vorherrschend reinweiß oder weiß mit tiefschwarzer, gewöhnlich höchst regelmäßiger Abzeichnung an beiden Seiten des Kopfes einschließlich der Ohren, auf dem Rücken und an den Seiten, sonst auch Wolfs-, mäuse- oder fahlgrau, gewässert und gewellt, nicht aber gestreift. Die schwachbuschige Fahne wird stets hängend oder gestreckt, niemals gerollt getragen und die Aehnlichkeit mit einem Wildhunde dadurch wesentlich vermehrt.
Der stetige und innige Umgang mit dem Menschen hat den Ostjakenhund zu einem überaus gutmüthigen Thiere gewandelt. Er ist wachsam, aber nicht bissig, muthig, aber nicht streitsüchtig, treu und eifrig, aber nicht fremdenfeindlich und hitzig; mißtrauisch, wenn auch nicht gerade unfreundlich dem Fremdling entgegeneilend, nähert er sich ihm vertrauensvoll, sobald er ihn mit seinem Herrn reden hört oder in den Tschum eintreten sieht.
In keiner Weise verwöhnt, giebt er sich, so gern er auch den Platz im Tschum mit seinem Herrn oder seiner Herrin theilt, doch, ohne Mißbehagen zu bekunden, Wind und Wetter Preis, wirft sich ohne Bedenken in das kalte Wasser des Stromes und schwimmt schnurgerade über breite Arme desselben oder trabt beim Zuge durch die Tundra unter dem Schlitten dahin, an welchen er angefesselt wurde, und ob der Weg auch durch Sumpf oder Morast, durch Zwergbirkengestrüpp oder Wasser führe, klug und verschmitzt, findig und behend, weiß er sein Leben behaglich zu gestalten und sich in allen Lagen desselben zu Helsen. Im Tschum liegt er entsagungsvoll neben ihm sonst erwünschter Speise; außerhalb der Hütte seines Herrn wird er zum naschhaften und dreisten Diebe; im Zwergbirkengestrüpp der Tundra trabt er gleichmüthig ünter dem Schlitten einher, im glatten Moraste oder auf sonstigem guten Wege aber stellt er sich, alle Viere von einander, auf die Schlittenkufe und läßt sich fahren; auf der Jagd begleitet er seinen Herrn als treuer und nützlicher Gehilfe; dem Fremdling aber schnappt er die Beute vor den Augen weg und verzehrt dieselbe mit einer so harmlosen Behaglichkeit, daß man dem Schelme doch nicht böse sein kann; beim Hirtendienste erweist er sich als aller Eigenheiten und Unarten des Renthieres kundig; aber niemals ist er so verlässig wie unser Schäferhund, gestattet sich im Gegentheile eigenes Urtheil und leistet seine Dienste nur dann ohne Weigerung, wenn ihm dies unbedingt nöthig zu sein scheint.
Der Hund des Ostjaken wird als Spielkamerad, als Wächter des Tschums, als Hüter der Herden und als Zugthier verwendet, jedoch auch nach seinem Tode noch benutzt. Vor den Schlitten spannt man ihn nur im Winter, legt ihm dann aber ein so ungeschicktes Geschirr-auf, daß er schon nach wenig Jahren lendenlahm umherhinkt. Nach dem Tode muß er sein treffliches Fell hergeben, ja viele Ostjaken halten offenbar nur deshalb eine so unverhältnißmäßig große Anzahl von Hunden, um jederzeit im Winter über deren Felle verfügen zu können.
Zu gleichem oder ähnlichem Zwecke dienen Wohl auch verschiedene, dem Neste entnommene Säugethiere und Vögel, insbesondere Füchse, Bären, Eulen, Krähen, Kraniche, Schwäne zc., welche man im oder vor dem Tschum des Fischers wie des Wanderhirten angekettet sieht. So lange solche Thiere jung sind, behandelt man sie freundlich und pflegt sie sorgfältig, sobald sic aber erwachsen und gut von Fell oder Federn sind, weiht mar sie dem Tode, verspeist, was gegessen werden kann, und verwendet außerdem Fell und Federn, verhandelt namentlich das erstere zu ost erstaunlich hohen Preisen.
(Fortsetzung folgt.)