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Da Ernst seine eigenen Sachen beständig verlor, verlegte und zerbrach, so entnahm er mit einer Genialität, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, alles Fehlende, oder vielmehr Ersatz dafür, wo er es eben konnte, und trug zum Beispiel heute — dem Vater zum Glück verborgen! — einen Bauer aus des Hausherrn Schachspiel als Kragenknopf mit dem tröstlichen Bewußtsein, daß derselbe ja vor Abend nicht gebraucht werde.
Nebenbei hatte er sich gestern das väterliche Taschenmesser geborgt, und die kleinere Klinge desselben war, wie das Messern in der Hand von Tertianern merkwürdigerweise öfter widerfährt, „ganz von selbst" zerbrochen. Im Bewußtsein dieser beiden belastenden Umstände war es daher Ernst recht elend zu Muthe, und er konnte es kaum erwarten, heute in die Schule — einen ihm sonst tief verhaßten Aufenthalt! — zu gehen, obwohl das in der Stille der Nacht angefertigte Exercitium auch dort einen unfreundlichen Empfang in Aussicht stellte. --
Stumm und bedrückt frühstückte alles. — Plötzlich tönte aus dem Nebenzimmer ein schrilles Geschrei, die Thür wurde aufgerissen und die schon etwas bejahrte Köchin des Hauses stürzte unter gellendem Wehklagen ins Zimmer, auf ihren Schultern als unfreiwillige süße Last Franzens Eichhörnchen tragend, welches, mit bitterer Ironie „das zahme" genannt, bei Gelegenheit der Fütterung seinem Käfig entschlüpft und der Küchenfee auf den Rücken gesprungen — eine Lage, in der es sich entschieden mindestens ebenso unglücklich fühlte wie sein Opfer und die nur dadurch hingehalten wurde, daß es sich mit seinen Krallen in die Haare seiner Trägerin verfangen hatte.
Alles sprang auf. Der Vater — zum Glück der Vater höchsteigenhändig! — warf die Kanne mit der Milch um, die sofort in einer breiten plätschernden Straße auf die Dielen niedertroff. Die Mutter lief nach Wischtüchern, Liesbeth lachte, daß ihr die Thränen herunterliefen, die beiden Jungen aber faßten die Sache als Sport auf und rannten schreiend hinter der Köchin her, die, mit dem Eichhörnchen auf dem Rücken, wie von Furien gepeitscht, einem Cirkuspferde vergleichbar, immer rund um den Tisch raste.
Endlich befreite sich das unselige Haus- thierchen unter Mitnahme eines Viertels von dem Gelock der Köchin; es jagte, von den Brüdern unter Hussa und Hallo verfolgt, unter alle Schränke, sprang auf den gedeckten Tisch, trat in die Butter und entfloh schließlich über das Sofa auf den Ofen, die Spuren seiner zierlichen Pfötchen in getreuer Butternachbildung auf dem dunkelgrünen Plüsch des Möbels zurücklaffend — eine Thatsache, welche das Stichwort „natürlich!" — gebieterisch herausforderte.
Eine allgemeine Ermattung folgte dem geräuschvollen Auftritt.
" Die Köchin, eine kräftige Person, auf deren thätige Mithilfe und guten Willen man beim heutigen großen Reinmachen stark rechnete, zerfloß infolge von Schreck und Schmerz in Thränen und erklärte, dazu hätte sie sich nicht vermiethet, daß sie sich von „den jungen Herren ihren Biestern" umbringen ließe — sie bekäme Magenkrampf! Mit dieser tröstlichen Versicherung wankte sie schluchzend hinaus.
Der Vater schlug ärgerlich nach seinen Söhnen und verwünschte Jungens und Eichhörnchen in einem Athem, so daß die beiden unschuldigen Schuldigen schon vor der gesetzlichen Schulzeit sich drückten mit der Versicherung „es haut schon dreiviertel," die neuerdings für „es schlägt" beliebt wurde. Sie wurden mit allseitigem Segen entlassen und man hörte nur noch, wie sie auf der Treppe dem abholenden Freunde, „dem Schulze", das Geheul der Köchin zu dessen namenloser Erheiterung dramatisch vortrugen. — Die Zurückbleibenden, einschließlich des Eichhörnchens, welches sich auf Umwegen auf die Gardinenstange gerettet und sich daselbst als verlegener, rother Knäuel ins Privatleben zurückgezogen hatte, fühlten die eingetretene Stille recht wohlthätig. Die Laune hob sich.
Zudem erschien eben der Briefträger, dieser stets willkommene Mann, und erwies sich auch heute als Friedensengel. Er brachte XXXVHI. Nr. 47.
einen ganzen Stoß Postsachen für den Hausherrn, die, wenn sie ^ sich auch bei näherer Betrachtung mit einer Ausnahme als un- ! interessante Geschäftsempfehlungen mit der verhaßten Dreipfennigmarke erwiesen, doch immerhin als Ableitung hochwillkommen waren.
Der Oberstlieutenant, ein Mann von System, der alles langsam und höchst ausführlich betrieb, namentlich seit der Dienst ihm keine Zeitbeschränkung mehr auferlegte, brachte durch die umständliche Erledigung seiner Briefschaften die etwas ungeduldige Hausfrau oft zur Verzweiflung. So auch heute, wo sie mit jeder Fiber ihrer Seele die Beendigung des Frühstückes herbeisehnte, um mit dem Aufräumen des Wohnzimmers den Anfang des > heutigen Greuels zu machen.
I „Natürlich" schien aber das Geschäft des Brieföffnens heute ! gerade gar nicht vor sich gehen zu wollen!
! Erst ordnete der glückliche Empfänger seine Korrespondenz nach nur ihm bekannten Grundsätzen und legte jede Sorte, die Ränder der Umschläge nach Möglichkeit aufeinander passend, zusammen, und dann nahm er den einen eigentlichen Brief heraus, um ihn mit Hochgenuß zu betrachten.
„Nun!" drängte seine Frau, „so mach' ihn doch auf!"
„Geduld!" sagte der Oberstlieutenant und drehte den Brief nachdenklich hin und her; „von wem kann denn der sein?"
Er studierte kopfschüttelnd den etwas un leserlichen Poststempel und das Siegel, wie es denn überhaupt eine Eigenthümlichkeit vieler Leute ist, daß sie sich eine halbe Stunde vor einem geschlossenen Briefe den Kopf über den Absender zerbrechen, statt einfach den Umschlag aufzumachen und sich davon zu überzeugen.
„Liesbeth," wandte er sich dann an seine Tochter, „ich habe mein Papiermesser auf meinem Schreibtisch liegen lassen!"
„Natürlich!" sagte Frau Anna, „wenn es schnell gehen soll! — So mach doch ein mal ohne Papiermeffer auf!"
Der Oberstlieutenant sah sie groß an. „Ja!" sagte er dann mit tiefer Verach tung, „Du bist das imstande, Anna, den Umschlag so mit dem Zeigefinger im Zickzack aufzureißen — das kann ich nicht — so etwas ist angeboren!"
Anna schwieg — nicht aus Friedensliebe, sondern um die Verhandlungen nicht zu verlängern; Liesbeth brachte das Papiermeffer.
Der Vater nahm es, begann aber noch nicht den Brief auf- zuschneiden, sondern wiegte verwundert den Kopf und sah das 6orM8 ckslieti an.
„Was ist denn nun wieder?" frug seine Frau mit vor unterdrückter Ungeduld zitternder Stimme.
„Komisch!" bemerkte der Oberstlieutenant sinnend, „die Postmarke ist links unten anfgeklebt — sonst sitzen sie doch immer rechts oben!"
Anna verschränkte die Finger, warf einen Blick nach oben und deutete durch beredtes Mienenspiel ihre Ansichten über die Männer im allgemeinen und über den ihrigen im besondern an. Die Zeit verstrich.
Endlich öffnete der Vater den Brief.
„Von wem ist er denn?" frug die Frau.
„Ich muß doch erst lesen!" gab der Oberftlieutenant mit erhobener Stimme zurück.
Die zitternde Erwartung seiner Frau und Tochter bemerkend, hielt er es für pädagogisch, diese unbefugte Neugier noch nicht zu befriedigen. Er las mit staunenswerther Langsamkeit und ver schärfte die Qual seiner Damen noch, indem er durch lebhaftes Mienenspiel, Lächeln und kurze Ausrufe wie „aha!" oder „nun sieh' 'mal!" auf einen höchst interessanten Inhalt des vorenthaltenen Schreibens schließen ließ.
Endlich war er fertig. Er erhob sich, legte den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.
„Nun bitte!" rief Anna empört, „Du wirft uns doch wohl mittheilen, was Du erfahren hast, Emil!"