Heft 
(1890) 50
Seite
851
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Weüamys Jukunftskaat.

in Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887"nach dem .801. Tausend der amerikanischen Originalausgabe".*

Wäre der Ruf des Buchs nicht seiner Übersetzung längst voransgeeiU, der erste Eindruck dieser Ankündigung müßte der einer riesenhaften Reklame sein, würdig, die Eifersucht eines Barnum herausznfvrdern. Wie Edward Bellamys .,Uooüi::o' dnoü- >vurä" aber thatsächlich beschafsen ist, so gehört die Mittheilung seiner unmittelbaren Wirkung zur wesentlichen Kennzeichnung des Buchs. Sie sagt uns: dieses Buch begegnet sich mit dem Inter­esse von Hunderttansenden, es ist ein Erlebniß unserer Zeit, ein Ausdruck ihrer gührenden Ideen, ein Spiegelbild der sich in ihr bekämpfenden Hoffnungen und Wünsche wie kaum ein anderes. Wie dies geschieht, deutet der Titel an: in Form einer Prophetie, die uns ansmalt, welche Zustände im Jahre 2000 an die Stelle der unseren getreten sein werden. Das ist zugleich Svzialkritik und Sozialpoesie. Und in dieser Verbindung, zeitgemäß wie sie ist, gleichzeitig an die Befürchtungen und Hoffnungen, an die Unzufrie­denheit mit der Gegenwart und die Zuknnftsideale unzähliger Zeit­genossen sich knüpfend, liegt das Geheimniß des unerhörten Erfolgs.

Wer nähme heute sers in Amerika oder in Europa nicht Antheil an den großen Fragen nach der Möglichkeit eines Ausgleichs der sozialen Gegensätze, welche den Kampf der In­teressengruppen in der modernen Gesellschaft von Jahr zn Jahr zu einer immer gefährlicher werdenden Glnth entfachen? Im Fürstenschloß, in der Bauernhütte, beim schwirrenden Triebrad unserer Jndustriestätten wie beim leisen Geräusch der schreibender: Feder im stillen Studierzimmer des Gelehrten, überall findet diese größte Frage des menschlichen Fortschritts ihren Widerhall.Was will das werden?" fragt, besorgt in das Wirrsal der sich be­kämpfenden Interessen schauend, der berufene Deuter der Zukunft, der Dichter.Nach uns die Sündfluth," antwortet kalter: Blicks der durch Materialismus und Selbstsucht verhärtete Vertreter der frivoler: Genußsucht. -Die Herrschaft des Proletariats unsere Herrschaft, wenn ihr am Laternenpfahl hängt," erwidert grimmig der Anarchist.Die Auflösung aller staatlicher: Ord­nung, ein wilder Verzweiflungskampf aller gegen alle," sagt, trüber: Sinnes ins Weite schauend, der schwarzsichtige Zweifler. Jeder Sozialphilosoph antwortet rrrit einer anderen Formel, die wohl Begriffe, aber keine sinnliche Anschauung der Zukunft vermittelt; jeder Sozialdemokrat rrrit Forderungen, für die er eingestandenermaßen friedliche Lösung selbst noch nicht weiß; der zuknnftsgläubige Idealist mit dem Bekenntniß seiner Ueber- zeugung, daß die Entwickelung der Menschheit trotz aller Hinder­nisse der Verwirklichung eines Reichs der Wahrheit, der Liebe, der Gerechtigkeit und Daseinsfreude entgegengehe . . . Aber die düstere Zweifelfrage:Was will das werden?" bleibt irr Er­wartung-der nächsten Zukunft allerwärts bestehen.

Da kommt mit jenem stillen Lächeln um die Lippen, das der Humor erzeugt, ein Sohn des nordamerikanischen Freistaats, der hohen Schule des praktischen Lebenssinns, zn uns herüber und lädt uns ein, er wolle uns ein Märchen erzählen. Seine Stimme ist mild und freundlich, seine Rede ist ernst, fast trocken; aber um seine Augen ziehen sich die Fültchen verhaltener Freude, und ans den Augen dringt ein warmer Strahl froher Begeisterung, der eine ungewöhnliche Verheißung als Schlußsatz des Märchens ahnen läßt. Und er erzählt uns, wie er im Jahre 1887 durch die Behandlung eines Magnetiseurs in einen langen, langen Schlummer verfallen sei, in einem fest geflossenen unterirdischen Gewölbe, das er sich wegen seiner Schlaflosigkeit als Schlaf­kabinett hatte bauen lassen, und wie er erst im Jahre 2000 wieder erwacht sei, ohne darüber eins seiner Lebensjahre eingebüßt zn haben. Er erzählt, wie Menschen eines andern Geschlechts, eines andern Jahrhunderts in sein bis dahin unentdeckt gebliebenes Gemach gedrungen, ihn ins Leben gernfen und freundlich ausge­nommen haben in ihrer ihn: so fremden Welt. Mit den: Aerger über einen langwierigen Arbeiterstreik, mit den häßlichen Ein­drücken von Anzeichen einer gährenden Revolution sei er einge­schlafen; erwacht aber nun zn einem Zustand der Gesellschaft, in welchem die Menschen wie Brüder einträchtig zusammen leben,

* Leipzig, Druck und Verlag von Philipp Reclam jnn.

ohne Streit und Neid, Gewattthat und Ueberoortheilung; in welchem jeder in einem freigewählten Berufe gegen Leistung eines Maßes von Arbeit, das nicht größer ist, als es der Gesundheit zuträglich, völlig befreit ist von der Sorge um den kommenden Tag; in welchem es keine Unterschiede mehr giebt zwischen arm und reich, gebildet und ungebildet, sondern alle Menschen reich sind an Glück und Bildung, weil sie alle gleichen Antheil und Genuß am Nationalvermögen haben, zn den: sie alle nach ihrer Kraft und Art ein gleiches Maß durch ihre Arbeit beitragen. Und er zeigt uns, wie dieser Zustand herbeigeführt worden ist nicht durchTheilung" des Privatbesitzes an alle zn gleichen Theilen, sondern durch Abschaffung des Privatbesitzes, vor allem des Geldes, sowie des Handels, des Kaufverkehrs und des Kredit Wesens mit eingebildeten Werthen, und an deren Stelle getreten ist der gleiche Kreditantheil aller am Vermögen der Nation, erworben durch pflichtmäßige Arbeit vom 2l. bis zum 1b. Jahre, und durch ein großartiges Kooperativsystem, eine Organisation der Arbeit, in welcher der Grundsatz der Arbeitstheilnng und derjenige der genossen- schaftlichen Erzeugung in gleichem Maße zur Geltung kommen.

Das neue Boston des Jahrs 2000 öffnet unseren erstaunten Blicken die Thore: eine Stadt mit breiten Straßen, die, von Bäumen beschattet und mit prächtigen Gebäuden umsäumt, auf Plätze münden, ans deren Parkanlagen Springbrunnen und Statuen hervorleuchten und die von kolossalen öffentlichen Ge­bäuden flankirt sind. Er führt uns in die Riesenbazare ein, wo die übersichtlichste Einrichtung eines Warenprobenlagers und prak tischste Ausnutzung technischer Hilfsmittel es jedem Besucher er­möglicht, ohne besondere Bedienung jede beliebige Auswahl zu treffen und Bestellung zn machen, die durch eine ebenso prompte Expedi­tionsmaschinerie umgehend erledigt wird, so daß die Ware oft noch vor dem Käufer in dessen Hans ist. Käufer? Nun, ja! Jeder Bürger, jede Bürgerin, sie haben für ihre Person eine Kreditkarte, die auf ihren jährlichen Antheil am Nationalvermögen ansgestellt ist und auf welcher bei jeder Erwerbung der entsprechende Betrag kupirt wird.

Das neue Boston kennt keine Herren und keine Diener, nur Arbeiter und Arbeiterinnen, deren Gesammtheit ähnlich gegliedert ist wie ein Heer bei allgemeiner Wehrpflicht, und in welchem die Wahl der Waffe, d. h. der Bernfsart, dem persönlichen Ermessen überlassen bleibt, das Aufrücken zu leitenden Stellen aber durch die persönliche Leistung bestimmt wird. Die ganze Nation, Frauen nnd Männer, geht in diesem Heer auf; an seiner Spitze steht der Präsident der Nationalrepublik; die Veteranen, welche Ehren Mitglieder ihrer Berufsgenosfenschaften sind, üben durch Wahl die Besetzung der obere): Verwaltungsposten aus. Der neue Staat kennt keinen Neid, keinen Diebstahl, keine Heirath aus Eigennutz, keine Vermögensprozesse, keinen Krieg, weil er kein Geld kennt. Er übernimmt die Erziehung der Kinder mit der ausgesprochenen Absicht, deren eigenthümliche Anlagen für irgend einen Arbeitszweig zn entdecken, zu entwickeln und für die Zwecke der nationalen Arbeit zn üben.

Und damit es dem persönlichen Ehrgeiz nicht an Zielen fehle, winken der besonderen Leistung als Lohn öffentliche An­erkennung, soziale Auszeichnung, amtliche Machtstellung. Das künstlerische und wissenschaftliche Talent findet seine besondere Wartung; der Genuß der Kunst ist Allgemeingut bei reichster Auswahl für den persönlicher: Geschmack; vom 45. Jahre an ist der Hauptzweck des Daseins, nur noch den höheren Genüssen der Knltur zu leben.

Gar anziehend, das Herz mit Ahnungen eines neuen goldenen Zeitalters berauschend, entrollt Bellamy diese Bilder. Und jeden Zweifel, der sich gegen die Möglichkeit dieser Friedrnswelt regt, ist er sofort bereit, zu beschwichtigen durch blendende Beweis­führung, den Protest des Individualismus durch die eifervolle Versicherung, daß in seinem Zukunftsstaat die persönliche Frei­heit, die Behaglichkeit des Familienlebens, die Lust cur Be­wegung und Veränderung keineswegs zu kurz kommen.

Aber freilich ein Märchen ist ein Märchen! Es kann uns schöne Zuknnftsträume noch so glaubhaft machen, ihre Er­füllung bleibt Sache der Zukunft. Die Gegenwart kann sie nur durch Beherzigung des sittlichen Kerns verwerthen. Auch Bellamys Zukunftsstaat der nationatisirten Arbeit ist eineUtopie", ein