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Daß er sie noch einmal küßte, duldete sie nun nicht mehr. Sie hatte allmählich die Selbstbeherrschung wie
der gewonnen. Als er ging, war ihr Ton überlegen und kühl.
Aber während seine Schritte im Treppenhaus verhallten, stand sie doch noch eine Weile wie in einem Bann still da und gab sich den trunkenen Erinnerungen hin, die er in ihr aufgewühlt hatte.
. . . Wie jung das alles doch war! . . .
Sowohl Sabine als ihr Vater hatten sich vor der Wiedereinrichtung des Haushalts geradezu gefürchtet. So lange sie in der Pension lebten, gab es nicht auf Schritt und Tritt die Brücken, die zur Vergangenheit zurückführten; mit dem Auskramen aber kamen die tausend Erinnerungen an die Heimgegangene. Und all diese Erinnerungen bedeuteten für sie beide ebensoviel Erschütterungen.
Die alle Nerven, alle Gedanken in Anspruch nehmenden Geschäfte des politischen Lebens brachten Doktor Gernot in den „Ziehtagen" über das Schlimmste hinweg. Er hatte lange nicht so viel Zeit zum Trübsalblasen wie Sabine. Hundert Verwicklungen, in die ihn seine Tätigkeit im Reichstag verstrickte, nahmen ihn gerade in der Woche gefangen, in der Spediteure und Packer die Einrichtung vom Speicher in die neue Wohnung am Kurfürstendamm brachten, und in der das ärgste Chaos gelichtet ward.
Am meisten hatte ihnen davor gegraut, die Möbel wiederzusehen, die in Mutters Zimmer aufgestellt gewesen waren. In den letzten beiden Jahren war das Stübchen, worin sie sich befanden, nur mit scheuer Ehrfurcht betreten worden. Nirgends hatten sie die Lücke, die in ihrem Leben entstanden war. mit so tiefer wehmutsvoller Rührung empfunden wie dort. Die feine altfränkische Mahagonieinrichtung, die Frau Gernot von ihrer Mutter einstmals in die Ehe mitbekommen hatte, bezeichnte so ganz ihre stille, zärtliche, besondere Art. Wenn Vater und Tochter sich in dem anheimelnden Raum aufgehalten hatten, so waren sie unwillkürlich —- noch viele Monate nach den: Heimgang der Mutter — auf den Fußspitzen gegangen und hatten nicht anders als in gedämpftem Ton gesprochen, ganz ergriffen von dem Zauber, den diese stummen Zeugen ihres behaglichen, liebenswürdigen Waltens auf sie ausübten.
Es war eine ganz seltsame, ganz besondere Art von Trauer, die sie beide erfüllte: sie trauerten um die Tote nicht etwa in lauter Klage, sondern meist nur mit einem gerührten Lächeln, in einer gewissen harmonischen Genugtuung, sich drollige kleine Züge, ja allerhand humoristische Vorfälle, sogar spaßige Begegnungen ins Gedächtnis zurückzurufen.
So kam es, daß die stille Frau als allzeit gegenwärtiger lieber Kamerad mit ihnen mitgelebt hatte bis zu dem Tag, an dem sie ihr Heim aufgaben.
Nach der längeren Spanne Zeit nun, in der — schon durch die Reichstagswahl — so unendlich viel Großes und Aufregendes auf sie eingestürmt war, fühlten sie beide, daß der Zustand von damals, wollte man ihn den jetzigen Verhältnissen in der so ganz anders gearteten Umgebung anpassen, etwas Gezwungenes, etwas Unwahres haben würde. Sie waren beide zu ehrlich vor sich selber, als daß sie sich das nicht eingestanden hätten.
Bei der Verteilung der Räume auf dem Wohnungsplan hatten sie ja allerdings noch gesagt: „Und das hier wird Muttchens Zimmer!" Aber unter dem erfrischenden Einfluß von Frau Asta, die das sprühende Leben selbst war, und vor der sie sich einer übertriebenen Sentimentalität geschämt haben würden, sagten sie höchstens noch: „Und in dem kleinen
Salon neben der Erkerstube können ja Muttchens Möbel stehen!"
Das war nur einer von vielen kleinen Zügen, die eine Wandlung verrieten, aber er war doch sehr bezeichnend.
Und der jungen Baronin, der neuen Hausfreundin, entging er nicht.
Übrigens gab es schließlich in der so glänzend, mit so viel neuen Anschaffungen modernen Stils ausgestatteten Wohnung am Kurfürstendamm überhaupt kein Plätzchen mehr, das ganz und gar dem Andenken an die Verblichene gewidmet gewesen wäre. Man hatte sich in allen: Frau von Gamps Anordnungen gefügt, die natürlich das Bedürfnis nach einem solchen „Mausoleum" nicht Mitempfinden konnte. Es in Worte zu kleiden, um es ihr klar zu machen, wäre beiden unmöglich gewesen. Ihre Art, die Räume Zu verteilen, war ja auch entschieden um so viel praktischer und behaglicher, so daß sie schließlich den alten Plan ganz widerspruchslos fallen ließen.
Noch vor Ostern fand der Einzug statt. Es war das herrschaftliche Hochparterre eines funkelnagelneuen Eckhauses mit Vorgarten. Die Wohnung war noch nicht bewohnt gewesen. Asta hatte Sabine mit Erfolg beim Hausbesitzer beigestanden: sämtliche Tapeten waren nach ihrer Angabe gewählt worden, einfarbig und ungemustert, so daß die wertvollen Ölbilder und alten Stiche in geschickter Verteilung gut zur Geltung kamen.
Doktor Gernot hatte für die Modernisierung seiner Einrichtung eine stattliche Summe in Aussicht genommen gehabt; auf ein hübsches Gesamtbild durfte er also schon gefaßt sein. Aber Frau Astas künstlerischer Sinn hatte sich geradezu meisterhaft betätigt. Und nicht nur die von ihr befürworteten Neuanschaffungen kamen glänzend zur Geltung. Mit einem überaus feinen Gefühl für behagliche Gruppierung, für trauliche Plauderecken, mit ihrer fast verschwenderischen Blumenliebe hatte sie, im Verein mit den zuerst widerstrebenden, dann immer kleinlauter und gefügiger mitarbeitenden Dekorateuren und Tischlern, auch die älteren Stücke in einer hübschen, originellen und dabei zweckmäßigen Art unterzubringen gewußt. Auch die heikle Mahagonieinrichtung, die eine dunkelrote Farbe erhalten hatte.
Mit dem neuen Stil war ein neuer Geist in das Haus gekommen, der Stich ins Altfränkische, ins Patriarchalische war ganz und gar entschwunden.
Asta half der jungen Freundin, die von der Großstadt und ihren Anforderungen noch immer leicht verwirrt ward, dann auch bei der Auswahl der Dienstboten. Sie wußte mit ihrem sicheren Auftreten den Leuten sofort zu imponieren. Und auch um Sabinens neue Frühjahrstoiletten bekümmerte sie sich. Sie war stets voller Ideen, voller Pläne, voller Anregungen. Ein durch und durch moderner Mensch. Und was immer sie angriff, gelang.
„Feenhünde hat die kleine Frau ..." meinte Doktor Gernot.
So recht zum Genuß des neuen Heims, zum behaglichen Bewußtsein der großen Hilfe, die man der jungen Baronin verdankte, kam er erst, als der Reichstag sich des Osterfestes wegen vertagte und er sich für eine kurze Frist von den politischen Geschäften freimachen konnte.
Nun war aber jeder dieser Tage für sie alle drei wie geschenkt.
In aller Frühe traf sich Sabine im Tattersall mit Asta. Ein, zwei Stunden ritt sie mit ihr auf dem Hippodrom oder im Tiergarten spazieren, gefolgt von einem elegant livrierten Bereiter des Reitinstituts in braunen: Schoßrock mit goldenen Knöpfen und Hellen: Ledergürtel, oft auch begleitet von Sirt von Soter oder von einen: der Offiziere, deren Bekanntschaft Sabine in den letzten Wochen in: Berliner Westen gemacht hatte.
Die körperliche Tätigkeit mit den: daheim sofort darauf folgenden Bad erfrischte für den ganzen Tag. In den späterer: Vormittagsstunden belegte dann Doktor Gernot, der inzwischen seine umfangreiche Korrespondenz erledigt hatte, die jungen Damen mit Beschlag. Die Equipage, die er irr: Tattersall gemietet hatte, fuhr vor und entführte die drei nach
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