besitzen geglaubt, weil er es für die großen Schönheiten der Natur erschlossen hatte. Seit seiner Jugend war durch seine Einsamkeit eine quälende Sehnsucht nach Glück gegangen. Nun glaubte er sich ihrer Erfüllung nahe und sollte zurückgeworfen werden, wie so oft schon, in das graue, wüste Meer der Ungewißheit und des Verzichtens? Hatte er nicht schon Entbehrung genug gekostet?
Lohnte ihm Steinhof so die Freundschaft langer Jahre, in denen er dem jüngeren Freunde ungleich mehr gegeben hatte, als er von ihm empfangen?
Er liebte Ellen Petersen, leidenschaftlich, ohne Überlegung, ohne Maß, ja jetzt doppelt, mit verzweifelter Glut, da ihm ihr Herz gleichsam unter den Fingern zu entschlüpfen schien. Er fragte nicht, ob er es denn je in Wirklichkeit besessen hatte, er fragte nicht, ob er ein Recht darauf hatte, von Ellen Liebe zu fordern, er wußte nur, daß es keine Freude, kein Glück, ja kein Dasein mehr für ihn gab ohne den Blick ihrer Augen, ohne den weichen, ruhigen Klang ihrer Stimme, ohne sie!
Unterbauer riß den Hut vom Haupte und warf ihn neben sich auf die Bank. Er wollte sich befreien aus den Ketten dieser Gedanken, die, er empfand es plötzlich, seine Natur gewaltsam verderben mußten. Er suchte nach einem Ausweg und fand die Hoffnung. Nun gab er sich ihr hin.
Hoffnung und Glauben gehen gern Hand in Hand. Unterbauer gewann allmählich die Ruhe wieder, und seine vordem finster gerunzelte Stirn glättete sich langsam. Besänftigend umwehte seine Stirn die Kühle der Nacht. Warum all diese Aufregung? Die Eifersucht schärft das Auge, sie kann aber auch zuweilen den Blick in die Irre leiten. War das hier nicht der Fall? War er denn so sicher, daß Ellen den Freund liebte? Hatte sie nur ein einziges Wort der Liebe zu Steinhof gesagt? Hatte sie je anders und wärmer zum Freunde gesprochen als zu ihm? War es nicht natürlich, daß sie sich gern mit dem heiteren und lebensfrohen Menschen unterhielt? Brauchte man da gleich an Liebe zu denken? Steinhof war ja Künstler, er war klug, unterhaltend, in jener leichtflüssigen, einschmeichelnden Art, wie sie Damen lieben, und verstand auch nichtssagendes Geplauder mit freundlicher Teilnahme anzuhören. Aber Ellen war ja Zu klug, um nicht unter der angenehmen Oberfläche den eigentlich unfruchtbaren Grund zu entdecken. Was dem Freunde gelang, gelang nicht aus innen heraus, aus schöpferischer Kraft, es war nur der genaue Widerschein der reicheren Außenwelt, von ihm geschickt verarbeitet und wiedergegeben. Seine Kunst war gefällig; aber nicht sein Inneres, nicht sein Herz gebar seine Werke, sie waren Spiegelbilder der Natur, denen er nichts Eigenes hinzuzusetzen verstand. Er war Sklave der Natur, statt sie zu meistern. Sollte das Ellen mit ihrer feinen Art nicht auch fühlen?
Nein, nein, es war ja nicht Liebe von ihrer Seite, so tief ging es wohl nicht, es war nur ein äußerliches Wohlgefallen an dem liebenswürdigen Menschen.
Unterbauer stemmte sich wie ein Ringer gegen sein Schicksal, er wand sich unter seinem Drucke, und ihm war plötzlich, als könnte er schon leichter atmen.
Im Hotel wurde jetzt mehr Licht angezündet, ein bisher dunkeles Zimmer erhellte sich, und bald darauf zeigte sich eine weiße Gestalt am Fenster. Es wurde geöffnet, jemand lehnte sich hinaus. Ellen Petersen war's. Dem jungen Manne, der regungslos nach dem Fenster starrte, stockten die Pulse, als er sie erkannte. Er wollte im ersten Augenblick der Überraschung aufspringen, aber er besann sich sogleich: sie konnte ihn ja nicht sehen, nun blieb er sitzen. Ellens Haare waren aufgelöst, sie flössen in schweren Wellen über die Schultern hinab und auf einen leichten, weißen Mantel, den das Mädchen umgeschlagen hatte.
So stand sie am Fenster ihres Zimmers und schaute in das Dunkel des Waldes. Wovon mochte sie träumen? Sie rührte sich nicht, und wie ihre Gestalt leicht auf den Sims gelehnt ohne Bewegung sich gegen den Hellen Hintergrund abhob, dessen Lampenschein sie mit gelbem Schimmer übergoß,
ging von ihr eine wunderbare Ruhe aus. Sie teilte sich auch dem mit, der wie gebannt an diesem Bilde Hing. Immer ruhiger wurde es in ihm, eine stille Gewißheit wärmte sein Herz und verscheuchte alle häßlichen Gedanken. Die Sehnsucht gaukelte ihm ein verlockendes Bild vor Augen, er sah sich, und Ellen lag in seinem starken Arme. Er hob sie empor, daß ihre weichen, duftenden Haare ihm schmeichelnd die Hand umflossen, und er trug sie, die Seine, davon. Weit weg, in ein Land ohne Schmerz und Oual., Weit weg!
Als das junge Mädchen endlich zurücktrat und eine Bewegung machte, die Fenster zu schließen, rief er leise, noch halb im Traume, ihren Namen: „Ellen!" Sie zögerte, sie horchte. Hatte sie ihn vernommen, hatte der Wind mit ihrem Namen die heißen Wünsche seines Herzens zu ihr getragen? Wer hätte das sagen können!
Endlich wandte sie sich wieder um, langsam, mit müder Hand die Fensterflügel zuschiebend. —
Als er am anderen Morgen erst spät herabkam, fand er seinen Freund und den Professor plaudernd vor dem Hotel am Frühstückstisch sitzend, und Steinhof empfing ihn mit der Nachricht: „Weißt du schon, Professor Petersen fährt heute nach Trafoi, um einen Ausflug auf das Stilfser Joch zu machen, wir sollen dort mit ihnen in drei Tagen Zusammentreffen, und zwar den Weg über den Ortler nehmen."
Unterbauer war unangenehm überrascht. Das störte seinen Entschluß; er hatte die Absicht gehabt, mit Ellens Vater zu reden und seinen Zweifeln ein Ende zu machen, nun würde er vor Ablauf dieser Frist keine Gelegenheit dazu finden: es war unmöglich, in der Hast des Abschiedes mit solch wichtiger Frage an den Professor heranzutreten. Darum antwortete er, die Herren fast kühl begrüßend und sich neben sie setzend:
„Über den Ortler sollen wir nach Trafoi wandern? Meinetwegen. Ich war freilich schon zweimal droben."
Diebeiden anderenachteten auf Unterbauers Mißstimmung nicht.
„Aber Herr Steinhof kennt das Hochjoch noch nicht," sagte der Professor, „und wenn ich Ihnen raten darf, meine Herren, so lassen Sie sich diese Tour nicht entgehen. Das Wetter wird, denke ich, schön bleiben, und das ist ein Weg, des Schweißes der Edlen wert."
Steinhof schlug freudig mit der Hand auf den Tisch.
„Ja, Stephan, das wäre mal was, übers Hochjoch! Ein herrlicher Gedanke! Ich Hab' mir's immer gewünscht! Wir laufen noch heute zur Baeckmannhütte, morgen aufs Joch, dort rasten wir in der Hütte, und dann geht's auf den Gipfel. Dir scheint's nicht recht zu sein?"
„Nicht recht? Mir? Warum nicht gar!" antwortete Unter - bauer, indem er sich Mühe gab, seine üble Laune zu verbergen. „Wir treffen Sie also bestimmt in Trafoi an, Herr Professor?" wendete er sich an diesen.
„Bestimmt!" erwiderte Petersen. „Und dann fahren wir alle vier zusammen hierher zurück. Ich werde mit einem Wagen auf Sie warten."
Er stand bei diesen Worten auf, da er noch zu packen hatte; auch die Freunde erhoben sich, die Vorbereitungen für ihre Partie Zu treffen. Ellen erschien nicht, sie hatte sich durch ihren Vater entschuldigen lassen, da sie noch einige Briefe schreiben müsse.
Zwei Stunden später stand der von dem Professor bestellte Wagen vor dem Hotel, der Diener legte das leichte Reisegepäck hinein. Die Freunde warteten schon eine Weile am Wagen, endlich kam Petersen mit seiner Tochter die Hoteltreppe herab, beide in bequemen, grauen Anzügen. Der Professor war in bester Stimmung, das junge Mädchen schien nachdenklich und befangen. Doch nahmen beide von den Freunden mit kräftigen Händedrücken Abschied. Der Professor wendete sich noch einmal beiden Freunden Zu:
„Also viel Glück auf Ihren Weg, meine Herren, und Vorsicht! Sie wissen, es ist eine schwere Tour."
„Ich weiß," gab Unterbauer zurück, „ich kenne sie, aber das ist mir gerade recht."