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gar keinen Berührungspunkt mehr hätten und unserem Herzen fremd bleiben müßten. „Denn alles, was so übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspiels entgegen, dessen Zweck von jeher war, ist und bleibt, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eigenen Züge, der Schmach ihr eigenes Bild, und dem Jahrhundert und Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen." Das aber ist das Große an Kainz, daß er in jeder Verkleidung Mensch bleibt. Und deshalb eben glauben wir ihm das geputzte Seidenwams des Veronesers wie den Lederkoller des Reiterführers. Es ist — wenigstens in der für uns überblickbaren, der historischen Zeit unserer Erde — im wesentlichen nur das Kleid, das Kostüm gewesen, das die Menschen von einst von den Menschen von heute unterscheidet. Haß und Liebe, Traum und Sehnsucht, Grausamkeit und Großmut, Gemeinheit und Edelsinn — all das hat sich in der Form wenig veränderter Sitten, die Klima, Zeitgeschmack und äußere Verhältnisse oft spielerisch bestimmten, immer wiederholt.
Vom Tod der Virginia bis zum Tod der Emilia Galotti hat sich ein so schwieriges Problem kaum wesentlich in seiner Wertung und Lösung verschoben. Die Tra- Figaro,
gödie Romeos und Julias hätte sich im Babylon Nebukadnezars mit kaum veränderten Begleitumständen so gut vollziehen können wie zur Zeit der polnischen Revolution von 1830. Die große Kunst wird immer den lebenden Menschen finden, dessen hoffendes und hassendes, erhabenes und geängstigtes Herz seit Jahrtausenden den gleichen Gesetzen gehorchte, noch Jahrtausende den gleichen Gesetzen gehorchen wird.
Man hat Kainz den „realistischen Helden" genannt. Mit Vorliebe seit seinem unvergleichlichen Carlos, den er im Jahre 1883 im Deutschen Theater in Berlin zuerst spielte, und der nicht den ersten, aber den vielleicht wichtigsten Stein
seines Weltruhmes herbeitrug.
Ein ganz leiser ärgerlicher, ja verächtlicher Unterton mag sich bei einigen in dieses Wort vom „realistischen Helden" eingeschlichen st haben. Was aber bedeutetes anders, als daß Kainz, ob schon er eine Dichtung spielte, die Wahrheit suchte; daß er, ob- schon er Verse sprach (Schiller- sche Verse damals!), den Glauben verkörperte, daß es auch in der Poesie Wichtigeres gebe, neben dem das Un- w es entlich ere glanzlos Hingleiten müsse: auf daß die besondere Schönheit auch besonders leuchte. Das war die „Auffassung", wie man's wohl nennt. Nicht seines Carlos allein, sondern aller Rollen, die er gespielt hat, vom gepeitschten Muttermörder Orest bis zum harmlos fröhlichen Nestroyschen Zwirn; vom genialen Zauderer Hamlet bis zum bitteren Narren im „Lear";
Tartüffe.
vom schwärmerischen Prinzen von Hornburg bis zun: scheinheiligen Tartüffe, vom Opfer seiner Liebe Romeo bis zum Opfer seines Hasses: Franz Moor; vom sorglosen Sprossen aus edlem Blut, den die große Aufgabe aus prassendem Leichtsinn aufrüttelt: dem Prinzen Heinz, bis zum müden modernen Genüßling, der aus den Niederungen des Lebens kommt und sein Genie und seinen sittlichen Halt in der weichlichen Schlemmersippe verliert: Willy Janikow. Kainz hat mit ungeheurem, zähem Fleiß an sich gearbeitet. Und es schleicht sich ein Stück Bewunderung für diesen Fleiß mit in seine Wertung, wenn wir das Geleistete ruhig überdenken. Goethe hat in seinen Gesprächen mit Eckermann über die Kunst des Schauspielers, die er in erster Linie aus einer freien Stimmung des Künstlers geboren sah, geurteilt: „Sollen wir nun im Schauspieler diese Freiheit des Geistes empfinden, so muß er : durch Studium, Phantasie und Naturell
vollkommen Herr seiner Rolle sein, alle körperlichen Mittel müssen ihm zu Gebote stehen, und eine gewisse jugendliche Energie muß ihn unterstützen." Die jugendliche Energie hat Kainz bis zum heutigen Tage im höchsten Grade, aber „alle körperlichen Mittel" standen ihm nicht zur Verfügung. Es gab viel schönere Liebhaber, viel.im- ponierendere Helden als ihn. Wohl gemerkt: in der Erscheinung. Aber das gesprochene Wort, der Glanz, die Kraft und die Klugheit der Rede heben seine Liebe, seinen Zorn, seine Ritterlichkeit weit über den Durchschnitt. Die Technik der Sprache hat er bis zur Vollendung ausgebildet. Unwesentliche oder von der Erregung zu beschleunigende Partien nimmt er oft in einem halsbrecherischen Tempo, ohne der Deutlichkeit zu schaden, ohne einen Irrtum zu wagen. Der Text ist ihm heilig. Aus dem, was der Dichter geschrieben hat, gestaltet er sich in ernstem Durchdenken die Rolle; aber keine Änderung gestattet er sich, kein willkürliches Anbringen von Nuancen, die
der Text nicht erlaubt und i
nahelegt. Über die Höhen - ^
seiner Rolle breitet er dann den ganzen Glanz seiner Kunst, und mit der leichten Sicherheit des Instinkts gleitet er über die gefährlichen Klippen.
Diese mit sicherstem Takt Lichtund Schatten verteilende Leichtigkeit in der Vers- sprache, dieses Sich- freimachen von aller pedantischen Schule, die ängstlich jedes arme Wörtchen in Gold fassen will, hat beim Don Carlos zuerst den Riesenerfolg w 23 Jahren im Deutschen Theater zu Berlin gebracht.
Mit fünfzehn Jahren
war er — nicht wie so viele andere gegen den Willen der Eltern, sondern von: Vater ermuntert — zur Bühne gegangen. An einer kleinen Wiener Bühne, dann in Marburg in Steiermark hatte er munter drauflosgespielt, ohne besonders aufzu- sallen; ein Gastspiel in Kassel war mißraten, eine Saison in Leipzig unter Förster brachte kein rechtes Glück. Drei Jahre
o. O. Lundt,
Äans Nudorff im „Rosenmontag"