„Ja, du hast gut schreien: Arnold! Mensch!' Wenn du in meiner Haut stecktest..."
„Ja, um Himmels willen — lieber Junge, so red' doch! Hat dir einer was getan?"
„Getan?" Arnold sah entrüstet auf. „Na, weißt du — das wagt schon keiner! Wenn mir einer was getan hat, so bin ich's höchstens selber. Das heißt, der grobe, ungeschliffene Klotz, der ich bin. Und meine Tischdame —"
„Ah —!" machte der Amtsrichter und kam nun schon besser auf die Spur, „der alte Spleen! Und ich dachte
schon," fügte er mit scheinbarer Harmlosigkeit hinzu „als ich sah, wie gut du dich mit deiner Nachbarin unterhieltest, du hättest dich bekehrt."
„Bekehrt—?" Arnold Schmidt sprach dies Wort mit einem rätselhaften Ausdruck, fragend, zweifelnd, nachdenklich. Er stützte den Kopf in die Hand, den Ellbogen aufs Knie und blickte sinnend und — wie es schien — besänftigt, ja von Wehmut ergriffen, vor sich nieder. Dann hob ein Seufzer seine Brust, so lang, so schwer, daß der Amtsrichter ihm besorgt auf die Schulter klopfte. „Na, alter Junge, was machst du denn für Geschichten? Beichte mal!"
Arnold Schmidt schüttelte den Kopf. Die Brust war ihm so übervoll — einer Seele mußte er sich offenbaren. Seine unglückselige Neigung, sich selber unters Seziermesser zu nehmen und jede seiner Bewegungen, jedes Wort zu zerfleischen, so daß er sich selber als ein richtiger Trottel, ein Ungeheuer an Taktlosigkeit und Ungeschicklichkeit unter den Händen zurückblieb — diese längst überwunden geglaubte Jämmerlichkeit hatte ihn heut wieder überfallen. Schlimmer als je — nachdem er selbstvergessen auf den Höhen der Menschheit gewandelt hatte.
„Fritz," murmelte er mit Grabeston, „ich Hab mich benommen, — benommen —!" In wahrer Verzweiflung schlug er auf sein Knie, daß es dröhnte. „Was muß sie von mir denken, die — die Ursula Faber ..."
„O - - die —" warf der Amtsrichter begütigend ein.
Aber Arnold Schmidt unterbrach ihn mit einer großartigen tragischen Handbewegung. „Schweig! Was weißt du? Erst lass' ich sie warten — eine geschlagene Viertelstunde lang, dann vergesst ich Esel die Blumen, die zu einer Brautjungfer gehören wie der Kranz zur Braut — bin schuld, daß der Engel in einer Karrete zweiter Güte — was sag ich, in einem Schinderkarren zur Kirche fahren, schuld, daß sie bei der Trauung ganz im Hintergründe stehen muß. — Ach Gott —" unterbrach er sich, voll Wehmut den Kopf schüttelnd. „Was für Verstöße ich mir sonst noch habe zuschulden kommen lassen — das wissen die Götter! Ich weiß bloß, daß ich mich verkrümelt habe, und daß sie mich ein paarmal gesucht hat wie eine Stecknadel — beim Damenwalzer
„Ja — aber Unglücksmensch, warum denn bloß?"
„Weil ich — Kreuzhimmeldonnerwetter, Mensch, das weißt du doch — nicht mal die elendesten Polkaschritte in meine ungeschlachten Glieder gebracht habe —"
„Hm, hm," brummte der Amtsrichter. Er erinnerte sich der unsäglichen Mühe, die er selber sich gegeben hatte, seinen Freund in die Kunst Terpsichores einzuweihen. „Aber das hättest du ihr doch sagen können," fügte er vorsichtig hinzu. „Denkst du, daß sie einen Mann nach diesen Fähigkeiten beurteilt?"
„Das ist's ja eben," sagte Arnold mit stiller Verzweiflung. „Das weiß ich ja. Und trotzdem. Wie angenagelt saß ich auf meinem Stuhl hinter dem Lebensbaum. Und sah, daß ihr das Tanzen auf die Dauer doch gar zu öde wurde. Und daß sie vielleicht gern noch ein bißchen mit mir geschwatzt hätte. Denn wir haben uns unterhalten — wie die Götter!" brach er enthusiastisch los, von der Erinnerung an die köstlichsten Stunden seines Lebens überwältigt. „Und, siehst du," fuhr er leiser fort, „so nett, und lieb und gut war sie, ich bildete mir ein, ich hätte ihr vielleicht -— keinen allzuschlechten Eindruck gemacht, trotz alledem. Aber als dann die anderen kamen, die Leutnants und Assessoren und Doktoren, und sich fast zerrissen
um einen Tanz mit ihr, da kam ich allmählich zur Besinnung, und — na, meinen Bauernstolz Hab ich auch. Das weißt du ja. Und sie ist 'ne Baronesse. Und fein wie eine Königstochter aus dem Märchen. Was nicht paßt, das paßt eben nicht. Ergo —" Er stand hastig auf und suchte unter den herumhängenden Menschenhülsen seinen feinen, seidengefütterten Überzieher. „Na, 's muß auch so gehen," murmelte er dabei mit zusammengebissenen Zähnen. „Schuster, bleib bei deinem Leisten. Übrigens, die Villa draußen, du, die wird famos. Und wenn ihr, du und deine Herta, euch mal so ein Nestchen im Grünen einrichten wollt ..."
Dabei fuhr er mit einem Arm in den Überzieher, suchte krampfhaft das andere Ärmelloch, schimpfte, wehrte des Amtsrichters Hilfe mit wildem Eigensinn ab, ließ sie sich dann aber widerstrebend gefallen.
„Eins möcht' ich doch noch fragen," warf er so nebensächlich hin, indem er den Rock über der weißen Weste und den Ordenssternen am Frack langsam zuknöpfte. „Sie will mich kennen. Komisch. Woher denn? Sie hat wohl bloß gespaßt, mich ein bißchen aufgezogen, nicht wahr? So 'nen plumpen Bären zu necken — der Schelm sah ihr ja aus den Augen. — Ach, Augen!" wiederholte er träumerisch. Und die seligschmerzliche Erinnerung warf einen solchen Glanz auf sein schlichtes männliches Gesicht, daß Fritz Siebmacher -— wenn er nach allem Vorangegangenen noch den geringsten Zweifel über die Gemütsverfassung seines alten Freundes gehegt hätte, jetzt von seinem Irrtum bekehrt worden wäre.
Es packte ihn beinahe wie Rührung. Dieser große, ungeschlachte Kerl — wie ein Kind war der ja, so durchsichtig, so dumm, so lächerlich! Fritz kriegte nasse Augen, schämte sich dessen, nahm's deshalb von der komischen Seite, die ihm besser lag, und schlug ein Helles Gelächter auf. Und er lachte, lachte — lachte immer toller, je wilder Arnold die Augen rollte, je zorniger er fragte: „Was lachst du, Mensch?" — je erbitterter er ihn schließlich bei den Schultern schüttelte. Bis Arnold ihm endlich entschlossen den Rücken kehrte und Miene machte, fortzugehen, spornstreichs — auf Nnnmerwiedersehn.
Da ergriff ihn der übermütige junge Ehemann noch glücklich am Schlafittchen, hielt ihn mit übermenschlichen Kräften fest, zwang ihn endlich, ihm ins Gesicht zu sehen, und sprach die inhaltschweren Worte: „O du großmächtigster aller zweibeinigen Esel!"
Und ehe der beinah erstarrte Baumeister noch den Mund zu einer schnöden Antwort hatte öffnen können, brach der Amtsrichter mit einem Wortschwall los, der seiner richterlichen Beredsamkeit alle Ehre machte. Er sprach, erklärte, erzählte, zehnerlei in einem Atem; er wiederholte und bekräftigte, denn er merkte: mit der Fassungskraft seines sonst so gescheiten Freundes sah's in diesem Augenblick nicht zum besten aus, und nur langsam dämmerte ihm das Verständnis des allerdings Ungewöhnlichen und Seltsamen, das er vernahm.
„Ja," murmelte Arnold endlich verstört, „hör ich denn recht: das Fräulein von Faber schreibt? Schreibt unter der bekannten Chiffre U. F.?"
„,Ursula Faber? — A. F? — Das stimmt doch?"
„Ja, es stimmt," murmelte der Baumeister tonlos. „,U. F? Sie schreibt auch Kunstkritiken. Und gute Kunstkritiken. Die besten, ehrlichsten, verständnisvollsten Kunstkritiken, hinter denen man immer den warmen, klugen, ehrlichen Menschen fühlt. Kein Wort zuviel. Keine Phrase. Nicht geschrieben, um ihren eigenen Geist oder Witz ins beste Licht zu setzen — nein, um dem Künstler nach bestem Wissen zu seinem Recht zu verhelfen. — Ich habe mich immer so über diese Kritiken gefreut," fügte er in hilfloser innerer Bewegung hinzu, dem Amtsrichter treuherzig ins Gesicht sehend. „Ich dachte: der Mann müßte dein Freund sein. Denn ein Mann konnte das bloß geschrieben haben. Und nun ist es —- eine Frau! Was sag ich — Frau? Ein junges Mädchen — ein Kind von achtzehn Jahren —"