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Schein heben sich, plötzlich wie aus der Scholle gewachsen, die Bäume des Jnselsaumes herauf. Jetzt erst treten aus den aufgezehrten Himmelsnebeln die Gestirne. Hoch am Zenit zeigt sich noch einmal, wie ein verblassendes Silberwölkchen, das Mondviertel. Im Osten über den roten Schleiern glänzt der Morgenstern. Nun erhebt sich aber, alles rasch überstrahlend, die Sonnenscheibe selbst. Meertiere, Delphine spielen auf der funkelnden Meeresoberfläche. Vom Lande schallt das muntere Zwitschern der erwachten Vögel. Ein Hirsch tritt aus dem Walde. Zuletzt erscheinen Fischer auf dem sonnenhellen weißen Strand, die zu ihren Netzen gehen.
Es ist das Schöne und Ergreifende an dieser Erzählung, daß sie das Ungeheuerste, die ganze Natursetzung und Weltentstehung, wie einen solchen friedlichen Sonnenaufgang über einer grünen Insel darstellt. Es findet kein Kampf statt wie in anderen mythischen Kosmogonien. Eine einzige urgesetzte Macht, über deren Dasein nicht weiter diskutiert wird, eine einzige einheitliche Folgerichtigkeit bringt alles hervor, vom Licht bis zum Menschen, so glatt, wie der stille, stete Umschwung der Gestirne dort den Morgen schafft. Erst eine ganze Weile später, wenn der Mensch vom Baum der Erkenntnis ißt, beginnt hier der große Hader, die Tragödie, die der eigentliche ethische Inhalt der Bibel ist. Wie vielleicht dort an dem Fischerstrande in der Menschenhütte für den, der tiefer hineinschauen könnte, jetzt die Not des bedrängten Menschenlebens auch beginnen würde und das große, fleckenlos strahlende Naturgedicht dieses Sonnenaufgangs unterbräche. . .
In der Bibel ist es Adam, der sich gegen das Weltprinzip, das ihn selber hervorgebracht hat, auflehnt, bis endlich nach unendlichen Schicksalen wieder die Versöhnung kommt, der aus dem Paradies verjagte Mensch im Sittengesetz und in der Menschenliebe sich wieder eint mit Gott.
Wie in allen religiösen Mythen sich tiefe seelische Erlebnisse der Menschheit spiegeln, so bedarf es auch vor diesen tiefsten nur eines schlichten Verständnisses und etwas guten Willens für das Wesen allegorischer Bildersprache, um zu fassen, wie in dieser morgenduftigen Ruhe des Schöpfungsbildes ebenso wie in diesem Gegensätze auch vom Gesichtspunkte moderner Forschung aus eine vollkommen richtige Stimmung anklingt. Im Menschen erwacht das Bewußtsein, das sich prometheisch gegen das Naturgesetz auflehnen will; bis es begreift, daß seine Aufgabe ist, dieses Naturgesetz auf einer höheren Stufe zu erfüllen, durch sich die Natur zu Schöpfungen des Sittlichen und höher Harmonischen gelangen zu lassen. Gegen dieses Ringen des bewußten Menschengeistes, in dessen Stoß und Schlag wir alle heute noch leben, je mehr, je tiefer wir sind, erscheint dagegen die ganze Entwicklung der Natur bis dahin, bis zu unserm geistigen Werdetage, mit all ihren Stürmen und Wehen, aus denen Fixsternsysteme, Sonnen und Planeten hervorbrachen, wie eine große, heilige Sinfonie, ein einheitlicher schöner Weltenfrühlingsmorgen. Von der höchsten Warte des Forschers, der alles dort in der unbedingten Einheit und Notwendigkeit des gegebenen Naturgesetzes sieht, verschwindet aller Kampf der Dinge als kleiner, belangloser Wellenschlag. Nichts, was in diesem Naturheraufgang geschah, hätte anders geschehen können. Dem Zufälligen Maßstabe unseres menschlichen Auges Ziehen sich diese Vorgänge vom ersten Auftauchen eines nebelhaft schwachen Lichts in frühesten Ballungen der Materie im Raum bis zum Herauswachsen des Menschen aus einer roheren Lebensform auf der Erde über Billionen von Jahren fort. Würde das Zeitmaß unserer Sinne feiner eingestellt sein, so daß der „Augenblick" sich tief in Bruchteile der Sekunde verlöre, so würde jede Minute dieser Billionen sich auf Jahre, Jahrtausende noch wieder dehnen, und ein wirklicher Frühlingsmorgen würde ein Weltalter sein. Wäre dieses Maß aber umgekehrt vergröbert, so erschiene das, was ja urgegeben durch das Naturgesetz kommen mußte, sogleich: Jahrtausende schmölzen zu Sekundenteilen ein; Jahrmillionen erschienen wie ein Tag, und das langsam in ihnen Entwickelte schösse aus dem Boden im Machtgebot seines Naturgesetzes wie Meer und Wald jener
Insel in der schnellen Folge eines Sonnenaufgangs. Das dichterische Auge mag diese Möglichkeiten ruhig vermischen. Was dem Naturforscher als langsame Entwicklung in Jahrmillionen erscheint, das darf er zusammengedrängt als eine Sekunde des Schaffens beschreiben.
So wie in diesem Sonnenaufgang über Land und See, so ist das Licht einmal zuerst gekommen. Aus dem Schoß des Urgegebenen und seiner Weltlogik. Es mußte sein, weil seine Zeit da war, und es kam. . .Den einfachsten Kern dieses Gedankens konnte die grübelnde, träumende Menschheit gewiß schon sehr früh fassen. Wir beginnen ja heute zu ahnen, wie viel Zeit in der Menschheitsseele vor dem Bibeltext noch liegt, wie viel Zeit für die Menschheit, so weit zu denken. Weit vor ihr taucht wie eine ungeheure Zyklopenmauer die wilde Schöpfungsgigantomachie der Babylonier auf. Dann aber kommen erst die langen, langen Jahrtausende, von denen wir in der unmittelbaren geschichtlichen Überlieferung, in der „Weltgeschichte" unseres Schulworts überhaupt nichts mehr wissen, deren kolossale Arbeit wir aber eben in dem sehen, was die spätere Kulturmenschheit schon aus ihnen mitbekam.
Es sind die Jahrtausende, in denen das tiefste aller ethischen und religiösen Systeme, das ganze Grundmaterial unseres höheren Geisteslebens geschaffen worden sind, in denen Kunst und Wissenschaft begründet worden sind, in denen der Mensch wirklich geistig „Mensch" geworden ist, in denen der Schritt zur Weltanschauung, zum Erfassen höherer, umgreifender Einheiten in den Dingen getan worden ist, in denen der Mensch angefangen hat, nicht nur als Mensch vorwärts zu leben, sondern über den Menschen uachzudenken.
Wieviel Jahrtausende? Jene Menschen, deren Kulturspuren man neuerdings in Höhlen Südfrankreichs entdeckt hat, lebten noch innerhalb der großen Eiszeit. Sie bemalten ihre Höhlenwände mit wunderbar kunstvollen Bildern ihrer Jagdtiere von damals, des Mammuts und des Wisentstiers. Menschen, die schon auf solcher Höhe der Kunst standen, hatten sicherlich bereits ihre Anfänge von Mythologie, von Schöpfungssagen, wie sie heute jeder nackte Wilde hat, der nicht aus der Höhe jener Kunst steht. Zwischen uns und der Eiszeit liegen im Norden sicherlich zwanzigtausend Jahre. Die Eiszeit selber hat nach Penck, ihrem unbestritten besten Kenner, eine halbe Million Jahre gedauert. Der Mensch war aber schon da, als sie einsetzte. Im Augenblick gerade erheben Forscher ersten Ranges ihre Stimme dafür, daß dieser Mensch auf seiner rohesten Kulturstufe schon die mittlere Tertiärzeit erlebt habe, die Zeit, da sich eben die Alpen aufgerichtet hatten und in Mitteleuropa noch ein fast tropisches Klima herrschte, eine Zeit, die mindestens eine ganze Million Jahre vor der Eiszeit lag. In welchen Spielraum alten Jdeenwachs- tums schauen wir da! Wie unzählige Male war die Sonne über dem Menschen heraufgestiegen, bis endlich die grübelnde Frage sich losrang: Wann war das zuerst, wann „wurde Licht"?
Das war jener Menschheit aber nicht gegeben und konnte ihr noch lange, lange nicht gegeben sein: eine wirkliche bebewußte Porstellung, wie lange dieses Lichtwerden zurückliegen könnte. Wie einem Kinde „vorgestern" so weit fortliegt wie ein Traum aus Urvergangenem, so waren ihr ein paar tausend Jahre dafür schon das denkbar Größte. Sie wußte
ja selber nicht, diese Menschheit, wie alt sie war. Wie lange
sie selbst schon das Licht alltäglich wiederkommen sah! Erst
die Forschung, die der Menschheit jetzt dieses wahre Alter
gibt, sie gibt uns auch zum erstenmal eine Ahnung, wo und wann das gewesen sein könnte, dieses erste Aufblühen von Licht in dem Weltabschnitt, der uns angeht, weil er schließlich zu uns führte. —
Vor Jahren kam ich auf einer Wanderung durch die Eifel nach Gerolstein. Es war ein blauer Spätherbsttag. Rotes Laub glühte von allen Höhen. Durch einen Straßenbau war eine scharf geneigte Berghalde angebrochen worden. Lose wie grauer Mörtelschutt kam das zermürbte Gestein herunter. Aber dieser Schutt bot, nahe besehen, einen seltsamen Anblick.