Heft 
(1906) 14
Seite
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Sehapparat von sich getan haben; bisweilen tragen sie aber die Augenstiele noch zum sichtbaren Zeichen, daß ihre Ahnen einst auch wirklich sehend gewesen waren.

Drüben in Nordamerika gibt es aber eine der wunder­barsten Stellen der ganzen Erde, was Urwelt anbelangt. Dort hat ein Strom, der Colorado, sich aus ödem Plateau tief und tiefer in den Felsboden eingefressen nach Art unserer Elbe beim Königs- und Lilienstein. Durchgesagt hat er sich durch alte und immer ältere Gesteinsschichten, erst durch die ganzen Schichten der Steinkohlenperiode, dann durch die des Devon, bis endlich selbst durch das Cambrium. Unter dem aber hat er noch ältere Sandsteine ausgeschnitten und an seinen Uferwänden (denGrand Canon" nennt man dieses tolle Strombett, das einsetzt, als wolle es die ganze Erdkugel auf­ritzen) Gesteinslager zutage gebracht, sicher viele Millionen Jahre noch wieder älter als jener Devonkalk von Gerolstein dasAlgonkium" hat man sie genannt, und in dieser schaurigen Tiefe, in diesem Gestein liegen immer noch Trilobiten.

Eine Grenze aber ist für uns hier. Weiter als zu diesem Algonkium reichen erkennbare versteinerte Reste lebendiger Wesen aus der Urwelt überhaupt nicht mehr. Wohl geht das Gestein darunter ruhig weiter. Der Colorado selbst schneidet noch abgrundtief mit seinem verwegenen Wühlloch hinein. Wir haben auch Anzeichen, daß jenseit des Algonkium- zeitalters nochmals Riesenzeiträume hindurch gerade so wie später Schlamm und Sand sich mit Wassershilfe abgesetzt und Stein gebildet hat. Aber ein geheimnisvoller Prozeß hat diesen Stein schon in Urtagen selbst so verwandelt, daß er­kennbare Lebensreste sich nicht in ihm erhalten konnten. Den­noch wissen wir sicher, daß das Leben selber hier noch nicht abreißen kann. Jene Trilobiten sind schon hoch entwickelte Tiere. Lange Ketten niedrigerer Entwicklungsstufen müssen ihnen vorauf­gegangen sein. Wir ahnen noch an der heutigen Organisation der Krebse, daß sie Würmern entstammt sein müssen und die Würmer noch einfacheren Tierformen. Gerade ganz am Ende dieses tierischen Stammbaumes aber stoßen wir noch einmal auf ein wichtigstes Zeugnis für die Existenz von Licht.

Das Tier ist selbst in seiner einfachsten Form auf dieser Erde nur möglich, wenn man eine zweite Lebensform schon voraussetzt: die Pflanze. Nähme man heute noch die Pflanze fort, so stürben alle Tiere ihr nach. Die Pflanze ist die Chemikerin, die aus den Rohstoffen ihres Planeten erst die verfeinerten Stoffe schafft, mit denen das Tier sich einzig und allein ernähren kann. Gerade diese glückliche chemische Tätig­

keit der Pflanzen ist aber nur möglich bei Anwesenheit von Licht. Das Licht mußte da sein, wenn die Pflanze, die Vor­aussetzung des Tieres, werden sollte. In die Urwasser, wo die erste grüne Pflanzenzelle zu arbeiten begann, muß Licht eingetaucht sein bis zu dieser Zelle. Wir stehen auf einer Schwelle, auf die mindestens hundert Millionen Jahre schauen. Und noch immer umgoldet sie Licht.

Das hat selbst der naive Mythus der Bibel nicht verkannt, der doch die Erde grünen läßt von Wald und Grasflur, ehe die Sonne fest eingestellt ist: Licht mußte irgendwie sein, irgend­woher, wenn Leben, wenn eine lebensgrüne Flur gedeihen sollte. Lassen wir uns gerade von diesem naiven Gedanken aber einmal anregen zu der Frage: Ist die Sonne wirklich die einzige Lichtquelle, die für die Erde in Betracht kommt? Heute ja. In einem eisig kalten Raum schwebt diese Erde. Was lebenerhaltend heute zu ihr strömt an großer Wärme und großem Licht, das strömt von der Sonne zu ihr über. Ihr eigenes Antlitz ist dunkel, ihre eigene Brust ist kühl.

Doch wir sind über hundert Millionen Jahre hinweg in die Urwelt hineingewandert und wollen noch weiter gehen. War das immer so?

Wieder muß ich an die urweltlichen Vulkane der Eifel denken, deren glühende Lava spät noch über den alten Trilo bitenstein floß. Als der Krakataua in unseren Tagen platzte und ein blühendes Gestade mit all seinen Wäldern und Menschen verschlang, da platzte er, weil sich Wasser in seine innere Glut, Glut aus dem Erdenschoße, ergoß. Aus der Insel Hawai leuchtet seit Menschengedenken ein blutroter Feuersee aus ewiger Lava fast eine Meile breit durch die Nacht. Wenn in unserem dunkelsten Keller das rätselvolle Phosphorlichtchen eines Milligramms Radium glimmt, so neigen sich auch ihm wie einer kleinen magischen Sonne die zarten Pflanzensprossen heliotropisch, d. i. wie mit einem Sonnenzuge sortgerissen, zu. War diese Erde ewig kalt und schwarz aus sich? Sie ist ein Stern, schwebend, bewegt, eine Sternenkugel im Raum. Wohl heute eine dunkle. Aber ich schaue auf zum dunkelnden Firmament, und über mir entrollt es sich wie sprühende Funkenwolken, Millionen von Sternen, die alle heute noch wie die Sonne leuchten. Bescheiden taucht die Sonne selbst zwischen sie ein. Da schwimmt die Milchstraße dahin. So dicht drängen sich die Leuchtsterne, daß ihr . Licht zu mildem Schein zusammenfließt. Ein diffuser Schein, der sich nebelhaft ergießt. Schwebendes Weltlicht, einsam im Raum. . .

Notwehr.

Von Ol'. fiartmann.

n Deutschland," schreibt der englische Humorist Jerome, bin ich für mich nicht verantwortlich, alles wird für mich besorgt und gut besorgt. Wo ich auch immer bin und was ich auch tue, ich stehe in der Obhut des Schutzmanns. Wenn ich nicht weiß, was ich will, er sagt es mir. ,Du hast nichts zu tun als zur Welt zu kommen/ sagt die deutsche Regierung, ,wir besorgen das Weitere/"

Der englische Spottvogel hat nicht ganz unrecht. Der Deutsche hat sich, seitdem durch das kraftvolle Regiment eines Friedrich Wilhelms I., eines Friedrichs des Großen und Augusts des Starken der Polizeistaat wie einrooller äa dron^e stabilieret" wurde, nur allzu sehr der männlichen Selbsthilfe entwöhnt. Wenn es ihm schlecht geht, pflegt er den Ruf nach Staatshilfe zu erheben, anstatt zunächst den Versuch zu machen, sich durch eigene Kraft aus seiner mißlichen Lage emporzuarbeiten. Anders wenn er sich einem Angriff auf seine Person oder seine Habe gegenübersieht: dann weiß er sich so trefflich selbst zu wehren, wie nur je einer seiner Vorfahren zur Zeit des allgemeinen Fehde- und Faustrechts sich zu wehren

verstanden hat. Dieses Recht auf Notwehr gegenüber unbe rechtigten Angriffen wurzelt, wie wenig Rechtsbegriffe sonst, fest im Bewußtsein aller Volkskreise; es sei nur an unsere lieben alten alleinlebenden Damen erinnert, denen Gewalttaten gewiß fernliegen und die dennoch Jahrzehnte hindurch in ihrem Schlafzimmer einen geladenen Revolver auf dem Nachttisch liegen haben, um damit gegebenenfalls den im Dunkel der Nacht einsteigenden Einbrecher niederzuschießen. Aber wenige Rechtsbegriffe haben in der Laienwelt auch eine so unbestimmte und unklare Auslegung erfahren wie der Begriff der Notwehr. Der Gläubiger glaubt in Notwehr zu handeln, wenn er dem säu­migen Schuldner zurVefriedigung für seine Forderung einenGegen stand eigenmächtig wegnimmt, der Hausbesitzer setzt den Mieter, der über die Mietszeit hinaus in der Wohnung verbleibt,in Notwehr" eigenhändig vor die Tür. Der Schuldner faßt das Erscheinen eines Gerichtsvollziehers häufig als persönliche Ehrenkrünkung auf und geleitet ihnaus Notwehr" mit mehr oder minder sanfter Gewalt an die frische Luft, und andere Fälle vermeintlicher Notwehr mehr. Und doch ist gerade dieser