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Begriff im Gesetz mit so schneidiger Schärfe bestimmt, daß er als Muster für so manchen hinlänglich berüchtigten „Kautschuk"- begriff, wie den „groben Unfug" oder das „öffentliche Ärgernis", dienen kann. Er lautet im Z 63 des Reichsstrafgesetzbuchs: „Notwehr ist diejenige Verteidigung, die erforderlich ist,
um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden."
Aus dieser Begriffsbestimmung erhellt ohne weiteres, warum die eingangs angeführten Beispiele vermeintlicher Notwehr in Wirklichkeit nicht Notwehrhandlungen sind. Wie schon das Wort Not„wehr" ausdrückt, ist Voraussetzung stets ein Angriff. Ein Angriff kann aber nur in einem Tun, nicht in einem Unterlassen bestehen. Deshalb hat der Gläubiger gegen den Schuldner, der nicht Zahlt, der Hausbesitzer gegen den Mieter, der nach Ablauf der Mietszeit nicht auszieht, kein Notwehrrecht; Schuldner und Mieter kommen zwar ihren Verpflichtungen nicht nach, greifen aber nicht an. Da Notwehr ferner nur gegenüber einem „rechtswidrigen" Angriff erlaubt ist, kann sie gegen den zur Pfändung erscheinenden Gerichtsvollzieher, wie gegen jeden anderen Beamten in regelmäßiger Ausführung seiner Obliegenheiten, nicht geübt werden, und es erfolgt dann stets mit Recht die Bestrafung des Widersetzlichen wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt.
Ebensowenig steht dem Kinde gegen seine Eltern, dem Zögling gegen seinen Lehrer, dem Lehrling gegen seinen Meister bei der Anwendung von Zuchtmitteln, insbesondere körperlicher Bestrafung, ein Notwehrrecht zu, da der Angriff vom Gesetz als berechtigt anerkannt ist. Nur wenn er über das nach vernünftiger Meinung zulässige Maß erzieherischer Einwirkung hinausgeht und in förmliche Mißhandlung ausartet, wird er rechtswidrig, und Notwehr gegen ihn ist erlaubt.
Gegen welches Rechtsgut sich der rechtswidrige Angriff richtet, ist gleichgültig. Insbesondere darf man sich nicht nur gegen Angriffe auf Leib und Leben wehren, sondern auch gegen solche auf Vermögen, Ehre, religiöses und sittliches Gefühl, soweit es im Gesetz geschützt ist. Namentlich findet Notwehr häufig gegen Beladungen statt, und zwar nicht nur tätliche, sondern auch wörtliche. Letzteres ist in einem vom Reichsgericht entschiedenen Fall, der wegen seiner eigenartigen Begleitumstände seinerzeit Aufsehen erregt hat, ausdrücklich anerkannt worden: ein Geistlicher hatte während der Predigt gegen den mit ihm verfeindeten, im Gottesdienst anwesenden Bürgermeister verhüllte, aber für die mit der Sachlage vertraute Gemeinde deutlich erkennbare Beleidigungen ausgesprochen. Der Bürgermeister hatte sich daraufhin erhoben, ihm „Ruhe, Ruhe!" zugerusen und die Kirche verlassen Er war deshalb wegen Störung des Gottesdienstes angeklagt worden, wurde aber aus dem Grunde der Notwehr freigesprochen. Denn wenn er auch durch seinen abwehrenden Zwischenruf die Andacht der Gemeinde störte, seine Verteidigung demnach auch Dritte belästigte, so richtete sie sich doch in erster Linie gegen den Angreifer. Daß dieser ein Geistlicher war, stand ebensowenig wie die Örtlichkeit der Selbstverteidigung entgegen; die Heiligkeit des Ortes mußte den Angreifer von seinem Angriff abhalten; der Angeklagte trat dem Unrecht nur da entgegen, wo es geübt wurde, er konnte sich den Ort der Verteidigung nicht wählen. Andererseits wäre das bloße Verlassen der Kirche kein genügendes Abwehrmittel gegen die Beleidigungen des Pastors gewesen. Zwar hätte der Bürgermeister sie dann nicht mehr gehört, der Geistliche konnte dann aber erst recht vor der versammelten Gemeinde deren Vorsteher zu schmähen fortfahren. Der Zwischenruf „Ruhe, Ruhe!" war zur Abwehr der weiter zu erwartenden Angriffe erforderlich.
Dies führt uns auf einen weiteren wichtigen Punkt: Notwehr darf nur soweit geübt werden, als sie zur Abwendung des gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs „erforderlich" ist. Eine Überschreitung dieses Maßes wäre strafbares Unrecht. Wollte der Angegriffene dem bei der Abwehr zu Boden geworfenen Angreifer noch eine Tracht Prügel geben, so wäre das keine Verteidigung mehr, sondern ein Rachenehmen, das als Körper
verletzung strafbar wäre. Andererseits kann man sich jedes Mittels, selbst der Tötung des Gegners, bedienen, sofern es nur zur Abwehr seines Angriffs „erforderlich" ist. Begegne ich z. B. einem mir an Körperkräften bedeutend überlegenen Menschen, der mich tätlich beleidigt, so kann ich ihn niederschießen, wenn andere Mittel zur Abwehr weiterer von ihm zu erwartender Angriffe mir nicht zu Gebote stehen. Als ein solches Mittel ist die Flucht, die immer mit Preisgebung der Ehre verbunden wäre, nicht anzusehen. Die deutsche Rechtsprechung hat hierin ein erfreuliches mannhaftes Ehrgefühl offenbart: das Recht braucht dem Unrecht keinen Schritt zu weichen!
Ausnahmsweise ist die Überschreitung der Notwehr nicht strafbar, wenn der Angegriffene in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Grenzen der Verteidigung hinausgegangen ist. Das Gesetz hat hier vernünftigerweise dem besonderen Seelenzustande des Angegriffenen und den daraus häufig sich ergebenden Fehlgriffen in der Wahl eines Verteidigungsmittels Rechnung getragen.
Ebenso ist die Notwehr, die gegen einen vermeintlichen Angreifer geübt wird, die sog. Putativnotwehr, nicht strafbar. Nehmen wir z. B. an, daß einer unserer oben erwähnten alleinwohnenden alten Damen das Unglück widerfährt, daß in der Morgendämmerung plötzlich ein Mann in ihr Schlafzimmer eindringt. Es ist aber kein Einbrecher, sondern ein zu einer Ausbesserungsarbeit erschienener Schlosser, der sich in der Zimmertür irrt; nehmen wir ferner an, daß sie trotz des lähmenden Schreckens und unter Verleugnung ihrer langen friedfertigen Vergangenheit es übers Herz bringt, den Revolver gegen den Eindringling abzudrücken; nehmen wir endlich an, daß das vor Jahrzehnten geladene und seitdem unberührt gebliebene Mordinstrument — aller Wahrscheinlichkeit entgegen -— nicht versagt und der Schlosser getötet wird, so ist diese vermeintliche Notwehr doch nicht als Totschlag strafbar, da der Irrtum über die wahre Sachlage der Täterin vom Gesetze zugute gehalten wird.
Feinerer juristischer „Begriffsknetung" bedarf es, um auch in folgendem Fall Notwehr für vorliegend zu erachten. Ein Herr sieht auf der Straße einen betrunkenen Kutscher sein altersschwaches Pferd in unmenschlicher Weise mit der Peitsche mißhandeln; auf des Herrn abmahnenden Zuruf schlägt der Kutscher nur um so heftiger auf sein Tier ein; der Herr entreißt ihm infolgedessen in seiner Empörung über dies rohe Gebaren die Peitsche und zerbricht den Stiel, so daß weitere Mißhandlungen des Tiers mit der Peitsche unmöglich werden. Wer den bisherigen Ausführungen aufmerksam gefolgt ist, erkennt sogleich den schwachen Punkt, an dem die Annahme einer Notwehrhandlung zu scheitern droht: es fehlt an einem eigentlichen Angriff auf den mutigen Tierfreund, der Kutscher mißhandelt ja nicht ihn, sondern sein Pferd. Trotzdem ist Notwehr anzunehmen und der Tierfreund daher sowohl von der zivilrechtlichen Schadensersatzpflicht für die zerbrochene Peitsche als auch von der Anklage vorsätzlicher Sachbeschädigung freizusprechen. Nach Z 360 Ziffer 13 des Strafgesetzbuches macht sich derjenige strafbar, der „öffentlich oder in Ärgernis erregender Weise Tiere boshaft quält oder mißhandelt". Diese Bestimmung ist nicht etwa aus Mitleid mit dem wehrlosen, mißhandelten Getier gegeben, sondern, wie alle Gesetzesvorschriften, zum Schutz eines menschlichen Rechtsgutes, hier des sittlichen Empfindens. Weil das sittliche Gefühl des normalen Menschen durch den Anblick boshafter Tierquälerei verletzt wird, wird der Tierquäler bestraft, nicht, weil er dem Tier ein Übel zufügt. Auf dieses durch das Gesetz geschützte sittliche Empfinden macht der Kutscher durch seine Peitschenhiebe einen Angriff und damit mittelbar auch einen Angriff gegen jenen Herrn, der an diesem sittlichen Empfinden teil hat und darum auch berufen ist, es gegen rechtswidrige Verletzungen zu verteidigen.
! Zu beachten ist in ähnlichen Fällen aber, daß es sich immer
^ um ein gesetzlich geschütztes Gut oder Interesse handeln muß.