Heft 
(1906) 14
Seite
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Peinigt mich z. B. mein Wohnungsnachbar, ein Musikdilettant, dessen Können so gering wie sein Eifer groß ist, mit seinen saiten- und herzzerreißenden Übungen schlimmer als jener Kutscher sein Pferd, so habe ich doch kein Recht, in sein Zimmer einzudringen und sein Klavier abzuschließen; denn leider gibt es noch keinen Strafparagraphen gegen die Musik­seuche. Die Sachlage ändert sich, sobald der hoffnungsvolle Kunstjünger auch die Nächte für seine Übungen zu Hilfe nimmt; dann wird mein durch die Strafbestimmung gegen Verübung ruhestörenden Lärms zur Nacht geschütztes Recht auf denheiligen Schlaf" angegriffen, und ich kann in das Zimmer dessen, der ihn freventlich mordet, eindringen und den Klavier­schlüssel abziehen, ohne daß ich wegen Hausfriedensbruchs und Nötigung bestraft werden könnte; denn ich handle in Not­wehr. Voraussetzung ist indes auch hier, daß andere Abwehr­mittel, namentlich die Bitte, des grausamen Spiels ein Ende sein zu lassen, nichts fruchteten.

Zum Schluß sei noch auf einen verbesserungsbedürftigen Punkt des Notwehrrechts hingewiesen. Wie mehrfach betont wurde, muß die Notwehr sich immer in den zur Abwehr des Angriffserforderlichen" Grenzen halten; nur soweit sie diesem Maß entspricht, ist sie erlaubt. Nicht aber fordert das Gesetz, daß das Rechtsgut, das der Angegriffene schützt, und das Rechtsgut des Gegners, das durch die Abwehrhandlung vernichtet wird, gleichwertig seien; vielmehr kann ihr Wert in schreiendem Mißverhältnis zueinander stehen. Folgendes Schul­

beispiel wird dies näher erläutern: ich sehe irr meinem Obst­garten ein Nachbarskind aus einen Apfelbaum klettern mit der offenbaren Absicht, sich an meinen Äpfeln gütlich zu tun. Das Kind läßt sich durch meinen Anruf im Verzehren der Äpfel nicht stören, es weiß, daß ich zu alt und gebrechlich bin, um ihm nachklettern zu können. Eine lange Stange oder sonstige ungefährliche Mittel, das Kind von dem Baume zu verscheuchen, mögen nicht zur Stelle sein. Ich kann dann, ohne mich straf­bar zu machen, das Kind von dem Baume herunterschießen, da ich anders seinen Angriff auf mein Eigentum nicht ab­wenden kann, das Herunterschießen somit nach dem Wortlaut des § 53 StGB,zur Äbwendung eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs erforderlich" ist.

Es ist keine Frage, daß diese aus dein Gesetzestext mit Notwendigkeit folgende Entscheidung das allgemeine Rechts­gefühl aufs schwerste verletzt. Wegen eines mir entrissenen Äpfels soll ich das Recht haben, einen Menschen zu töten, wenn ich ihm anders den Apfel rächt wieder entreißen kann? Die hierin liegende ungeheuerliche Übertreibung des an sich richtigen Grundsatzes:Das Unrecht muß stets dem Recht weichen" ist als eine wahre Totschlügermoral zu brandmarken; wenn auch der Angreifende im Unrecht ist, so ist er darum schließlich doch nicht völlig rechtlos und vogelfrei. Hoffen wir, daß die bevorstehende Revision des Strafgesetzbuchs diesem ein­zigen, aber schweren Mangel des sonst so vortrefflich begrenzten j und deutscher Wesensart eigentümlichen Notwehrrechts beseitigt.

Paradiesvogel.

(13. Fortsetzung.» Roman von Paul Oskar Löcker.

ür ein paar Tage hatte Berlin nun endlich wieder seine eau86 eälebre".

Der Justizpalast zu Moabit besaß schon in den frühen Morgenstunden des 17. September ein ganz anderes Aus­sehen als sonst. Des stattlichen Zeugenaufgebotes wegen fand die Schöffengerichtssitzung in einem größeren Saale statt. Trotzdem konnte nur der geringste Teil der Bewerber um Zu­trittskarten berücksichtigt werden. Zu Hunderten hatten sie sich gemeldet. Neben den gewohnheitsmäßigenKriminalstudenten" befanden sich unter den Neugierigen, die der Verhandlung bei­wohnen wollten, Reichstagsabgeordnete und Sportsleute, Damen, die im Vorstand der Wohltätigkeitsbasare häufig mit der Baronin von Gamp zu tun gehabt hatten, und außer den Bericht­erstattern noch ein paar bekannte Sportsschriftsteller.

Kurz vor Zehn Uhr stieg Asta an der Seite ihres Vaters die breite Marmorfreitreppe zu dem oberen Stockwerk hinan. Sie wußte sich auf den Arm ihres Begleiters stützen, denn das Zittern in den Knien meldete sich bei ihr wieder.

Sixt von Soter machte alles in allem einen glänzenden Eindruck: seine prächtige Erscheinung, sein etwas hochmütig überlegener Gesichtsausdruck, der tadellose Anzug ganz in eng­lischem Stil, der sichere und dabei joviale Ton, in dem er die auf den Gängen verweilenden Bekannten begrüßte.

Um Asta das Angestarrtwerden zu ersparen, führte Gernot, der den beiden sofort entgegenging, begleitet vom Justizrat Bresfentin, das Paar in das Zeugenzimmer.

Asta war wachsbleich. Ihre schwarze Toilette bewirkte, daß sie etwas Witwenhaftes, Vergrämtes besaß. Die Mehr­zahl der Neugierigen, die so oft von der eleganten Frau, der Königin vieler Winterfeste, der besten Reiterin Berlins gehört hatten, war ziemlich enttäuscht.

Sie war erst vor zwei Tagen mit Sabine über Vliffingen heimgekehrt. Allein hatte sie ihren Verlobten überhaupt noch nicht gesprochen. Beim ersten Zusammensein hatte Gernot ihnen beiden nur in kurzen, klaren Worten den Verlauf des ersten Termins geschildert. Fast übertrieben peinlich vermied

er dabei alles, was einer Beeinflussung ähnlich sehen konnte. Der korrekte Jurist steckte ihm im Blut. Worauf die Gegen­partei abzielte, darüber unterrichtete er Asta auch nur ganz sachlich. Aber es war ihr dabei gewesen, als sähe er sie prüfend an, als wollte er ihr zum letztenmal Gelegenheit geben, ihr Gewissen zu entlasten, falls es bedrückt war.

Asta schwieg darauf, anscheinend ganz ruhig und gefaßt.

Sie war bei dieser ersten Begegnung mit ihren: Verlobten schon durch ihren Vater über das Wesentlichste genau unter­richtet gewesen. Nach seiner Darstellung hatten sie von dem Termin nichts zu befürchten.

Daß Gamp in der Verhandlung gegen sie aussagen würde, war nach seinem Brief nicht anzunehmen. Sie mußten sich nur selbst hüten, meinte er, durch ihre Beichte ihn mehr als unbedingt nötig zu belasten. Denn reizen durfte man ihn natürlich nicht.

Im übrigen, anständiger Kerl ist er doch immer gewesen," sagte Soter,und was könnt's ihn: für Vorteil bringen, wenn er heute noch anderswen mit hineinschliddern ließe?"

Seitdem die Kunde Zu ihr nach England gelangt war, daß dieser zweite Termin mit einer umständlichen Zeugen­vernehmung stattfinden würde, befand sich Asta wie in einem seltsam starren Traumzustand. Sie wußte: ein einziges Wort genügte, um sie zu Boden zu schmettern. Oft schreckte sie auf, sah sich verstört um es war ihr, als hätte das Schicksal schon gesprochen.

Und doch wieder wußte die Redekunst ihres Vaters ihre wachsende Gewissensangst einzuschläfern, zu betäuben.

Ein glücklicher Zufall, eine unerwartete Begegnung im letzten Monat, hatte Sixt von Soters Siegesgewißheit so auffallend ge­stärkt. Auch darüber hatte er Asta berichtet, ohne bei ihr auf ein rechtes Verständnis zu stoßen, wo hinaus er damit zielte.

Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen, wenn er zu ihr sprach, die Scham rang in ihr mit der Furcht.

Aber Soters behäbiger Zynismus ward von den seelischen Oualen seiner Tochter nicht berührt.