Heft 
(1906) 14
Seite
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Und doch ist diese Weltmacht die Schöpfung eines einzigen Jahrhunderts. Erst im Jahre 1776 lösten sich die damaligen englischen Kolonien an der Ostküste der Neuen Welt von ihrem Mutterlande los, vor gerade hundert Jahren traten sie zum ersten Male in der Weltpolitik selbständig auf. Wie war es möglich, daß dieses Land sich in dieser so kurzen Zeitspanne in so ungeahnter, in der Weltgeschichte einzig dastehender Weise entwickeln konnte?

Amerika ist eben vom Glück begünstigt worden wie kein zweites Land auf Erden. Das beweist schon seine politische Ent­wicklung. Ohne besonders große Opfer vertrieben die Kolonisten des achtzehnten Jahrhunderts die englischen Machthaber und erklärten sich zu einem selbständigen Staatenbunde, der dank der Zerfahrenheit und der Eifersüchteleien in Europa bald an­erkannt wurde. Damals reichte der Landbesitz der zu Staaten gewordenen Kolonien von der atlantischen Seeküste bis an den Mississippi, doch besaßen nur die Neuenglandstaaten, dann der Osten von Pennsylvanien, New Jork, Virginien und Georgien nennenswerte Bevölkerung. Westlich vom 80 . Breitegrad war noch alles wildes, von den tapferen, damals noch mächtigen Jndianerstämmen beherrschtes Land, und das Innere des Kontinents mit seinen ausgedehnten Prärien, seinen hohen Felsengebirgen war unbekannt und unerforscht wie das Innere von Afrika. Nicht einmal die Besitzverhältnisse waren geregelt, Grenzen gab es nicht, nur hatten sich Frankreich und Spanien in diese Länderstrecken beiläufig geteilt, Spanien besaß die westliche, Frankreich die östliche, hauptsächlich die Prärien um­fassende Hälfte.

Dieser französische Besitz, ein Gebiet von ungefähr zwei­einhalb Millionen Quadratkilometern, also nahezu die Größe von fünf Deutschen Reichen, führte den Namen Louisiana, und der Regierungssitz befand sich in Nouvelle Orleans. Nur der Flußlauf des Mississippi war bekannt, Schiffe drangen nordwärts bis oberhalb der Einmündung des Ohio, und in der Nähe hatten ein paar Jndianerhändler und Trapper die Ansiedlung St. Louis gegründet. Um das Jahr 1800 herrschte in Frankreich der General Bonaparte. In Krieg mit England verwickelt, fürchtete er, die englischen Schiffe könnten Nouvelle Orleans und damit die junge Kolonie Louisiana erobern, die damals Frankreich mehr Geld kostete, als sie eintrug. Überdies brauchte Bonaparte Mittel zur Fortführung seiner Kriege, und so bot er denn die Kolonie Lousiana Amerika zum Ankauf an. Als Preis wurden 15 Millionen Dollars festgesetzt. Die amerikanischen Abgesandten, Robert Livingstone und James Monroe, der Gründer der heute für die Neue Welt ausschlag­gebenden Monroe-Doktrin (Amerika den Amerikanern) Unter­zeichneten den Kaufvertrag, und Louisiana ging für das ge­nannte Linsengericht in den Besitz der Vereinigten Staaten über ihre Ländereien hatten sich um das Doppelte vergrößert!

Dies war der vorteilhafteste und größte Landkauf, der je­mals stattgefunden hat, denn heute zahlt eine einzige Stadt dieses Gebietes, das so groß ist wie Europa, ausgenommen Ruß­land, nämlich St. Louis, alljährlich ebensoviele Millionen an Steuern allein, wie das ganze Territorium ein für allemal ge­kostet hat. Hätten die Vereinigten Staaten damals diese 15 Millionen auf Zinseszinsen angelegt, so würden sie heute auf eine Milliarde angewachsen sein. Der Grundwert des Ter­ritoriums beläuft sich aber heute auf acht Milliarden, also das Achtfache der natürlichen Entwicklung. Auf den damals ein­samen wüsten Steppen sind nicht weniger als 13 blühende, reiche Staaten entstanden mit einer Gesamtbevölkerung von 15 Millionen Seelen, und heute entfallen von dem National­reichtum Amerikas auf jeden Kopf 1232 Dollars.

Doch dabei blieb es nicht. Im Süden war die ganze Seeküste am Golf von Mexiko vom Mississippi bis an die Atlantis, einschließlich Florida, noch in spanischem Besitz. Amerika gelang es, dieses Florida heute ein reich gesegneter Staat mit einer halben Million Einwohner im Jahre 1819 von Spanien für eine geringfügige Summe zu kaufen. Auf der gegenüberliegenden, d. h. also der Südwestseite, hatte sich

von Mexiko ein Gebiet von der Größe anderthalb Deutscher Reiche losgelöst und eine selbständige Republik unter dem Namen Texas gegründet. Sie war von nur kurzem Leben, denn im Jahre 1845 wurde sie von den Bereinigten Staaten einfach annektiert. Drei Jahre später, im Jahre 1848 trat Mexiko den Vereinigten Staaten das ganze Riesengebiet der Felsengebirge, vom Rio Grande bis an die Nordgrenze Kali­forniens, von der Prüriegrenze bis an den Stillen Ozean, ab, und die Bereinigten Staaten reichten nun quer über den ganzen Kontinent mit einem Gebietzuwachs so groß wie zwei Deutsche Reiche. Die heutigen Staaten Oregon, Idaho und Washington, zusammen ebenfalls weit größer als das Deutsche Reich, fielen auf Grund amerikanischer Entdeckungsreisen und Besiedlung von selbst an die Vereinigten Staaten. Alaska, beinahe dreimal so groß wie Deutschland, wurde den Russen für ein paar Millionen abgekauft, durch den Krieg mit Spanien erwarben die Ver­einigten Staaten den wichtigen westindischen Besitz, durch rück­sichtsloses Eingreifen in die inneren Verhältnisse der Sandwich- inseln auch diese, und es fehlte nur noch die Kanadische Do­minion, um den ganzen Kontinent, zusammen 19 Millionen Quadratkilometer, unter die Herrschaft Bruder Jonathans in Washington zu bringen. Dieser Anfall Kanadas ist nur eine Frage der Zeit, wenn auch heute die Majorität der Kanadier noch die Abhängigkeit vom englischen Mutterlande vorzieht. Die Interessen der beiden Länder Nordamerikas nähern sich einander immer mehr. Die Kanadier werden allmählichpan- keesiert". In jedem Jahre ziehen viele Tausende von Kanadiern, vornehmlich aus den französischen Ostprovinzen, nach den Neu­englandstaaten, um dort Erwerb zu suchen, und kehren größten­teils als Amerikaner wieder nach Kanada zurück. Auf diese Weise war nicht weniger als ein Viertel der gesamten Be­völkerung Kanadas kürzere oder längere Zeit in Amerika tätig. Während auf der atlantischen Seite die Wanderung von Kanadiern nach Amerika stattfindet, vollzieht sich in den Prärien des Westens dagegen eine Wanderung von Amerikanern nach Kanada, um sich dort in den fruchtbaren Ebenen von Sas­katchewan und Manitoba anzusiedeln, jährlich nicht weniger als 40 000 . Jeder dieser nach Amerika wandernden Kanadier, jeder der nach Kanada wandernden Amerikaner wird gewisser­maßen zum Missionär der Angliederung Kanadas an die große Republik. Amerika braucht Kanada nicht zu erobern und mit England um diesen Preis keinen Krieg zu führen, die Frucht wird ganz von selbst reifen, Unkel Sam wird zur rechten Zeit nur seine Schürze hochzuhalten brauchen, sie wird von selbst hineinfallen. Voraussichtlich wird noch dieses Jahrhundert den geeinigten Kontinent von Nordamerika sehen mit einer ein­heitlichen weißen Bevölkerung, die in jedem Jahrzehnt nur ein Fünftel wächst und somit schon nach sechzig Jahren zwei­hundert Millionen Seelen erreicht haben dürfte!

Bei den so glücklichen Gebietserwerbungen Amerikas handelte es sich nicht nur einfach um Durchschnittsland, sondern größten­teils um solches, das zu den reichsten und fruchtbarsten des Erdballs gehört. Die gütige Mutter Natur hat ihr Füllhorn über den nordamerikanischen Kontinent ganz besonders reichlich ausgeschüttet. Die einsamen trockenen Prärien und Steppen erweisen sich als der fruchtbarste Getreideboden, und in den Gebirgen liegen mineralische Schätze von einer Menge und einem Wert wie in keinem anderen Lande. Noch sind große Gebiete in dieser Hinsicht gar nicht erforscht, und doch besitzt Amerika heute schon einen weit größeren Anteil an der Pro­duktion von Eisen, Kohle, Kupfer, Silber, Petroleum usw. als alle anderen Länder des Erdballs. So z. B. bringt Amerika mehr Eisen und Stahl hervor als die beiden bisherigen Haupteisen­länder England und Deutschland zusammengenommen, d. i. 40 v. H. der Weltproduktion, und doch wurde vor etwa fünfzig Jahren nicht eine Tonne Eisen erzeugt. Amerika ist das Hauptkohlenland der Erde mit einem Kohlenrevier von einer Viertelmillion englischen Ouadratmeilen; an Anthrazitkohlen allein wurden 1905 über 60 Millionen Tonnen gewonnen! Von der Weltproduktion an Kupfer, 660 000 Tonnen, entfielen