Heft 
(1906) 14
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408 000 Tonnen, über 60 v. H., auf Amerika. Ähnlich ist das Verhältnis von Gold und Silber. An Petroleum pro­duziert Amerika mehr als 50 v. H. Der Getreidemarkt wird von Amerika kontrolliert, die Maisproduktion erreicht 70 v. H. jener des Erdballs, und der Wert von Mais, Winter- und Sommerweizen allein wird Zusammen auf 26 Milliarden Mark geschäht, mehr als das Jahresbudget aller Reiche Europas! Die Welterzeugung der Baumwolle beläuft sich auf 18 Millionen Ballen von durchschnittlich 250 Kilo Gewicht. Auf Amerika entfallen davon nahe an 14 Millionen, also nahezu 80 v. H.!

In ähnlichen Verhältnissen bewegt sich die Produktion anderer wichtiger Artikel. Welchen Aufschwung die Rinder­und Schweinezucht, Obstbau u. dergl. genommen haben, ist bekannt. Nun zählt die Bevölkerung der Vereinigten Staaten heute ungefähr 80 Millionen Seelen, das sind 5 v. H. der Gesamtbevölkerung der Erde. Die Produktion in den genannten und anderen Artikeln beläuft sich aber auf 25 bis 80 v. H. jener der Erde. Es entfallen also auf jeden Amerikaner acht bis zehn Mal mehr Naturprodukte als auf jeden anderen Erden­bewohner, und darin liegt zum Teil die Erklärung des sprich­wörtlich gewordenen Reichtums der Pankees.

Während so die Bürger der Vereinigten Staaten schon von der Natur in so überaus reichem Maße begünstigt werden, hat zu ihrem heutigen Reichtum, ebenso wie zu ihrer Macht und Weltstellung, das alte Europa in einem Maße beigetragen, das in der Geschichte einzig dasteht. Europa gab Amerika das größte Geschenk, das jemals seit Urzeiten einem Reiche gemacht worden ist, ohne dafür anderes als Undank zu ernten. Ohne dieses Geschenk wüßten die Amerikaner nichts mit ihren Naturschätzen anzufangen, sie würden unbenutzt daliegen, und es erginge ihnen wie jenem Goldsucher, der in der Wildnis Millionenschätze findet und doch Hunger leidet. Europa gab Amerika die Arbeitskräfte, um das Land zu entwickeln, um seine Naturschätze zu heben, Zu verarbeiten und damit auch auf dem Weltmarkt zu ver­werten. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gab Europa den Vereinigten Staaten nicht weniger als zwanzig Millionen fertige Arbeiter. Eine in der Weltgeschichte einzig dastehende Völkerwanderung wendete sich von der Alten nach der Neuen Welt. Fünfzig Jahre lang dauerte dieser Menschenstrom, und er ist heute eher noch im Steigen als im Versiegen begriffen, er erreicht jetzt jährlich dreiviertel bis zu einer Million. Seit Jahrzehnten verlassen Tag für Tag, Sommer und Winter durchschnittlich ein- bis zweitausend Menschen die heimatlichen Gestade, um in dem gesegneten nord­atlantischen Dorado ihr Glück zu suchen und damit die Ent­wicklung und den Reichtum Amerikas zu fördern.

Das ungeheure Opfer, das die Alte Welt der Neuen mit diesen zwanzig Millionen Menschen gebracht hat, wird in seiner ganzen Größe viel Zu wenig in Betracht gezogen. Ebenso bleibt es bei der Beurteilung Amerikas gewöhnlich unbeachtet, daß zum größten Teil Europa das neue Amerika geschaffen hat. Jede Mutter weiß, welchen Kummer, welche Sorgen die Erziehung eines Kindes ihr bereitet. Jeder Vater kennt die empfindlichen Kosten, die ihm das Großziehen eines Knaben in den zwei ersten Jahrzehnten seines Lebens ver­ursacht. Werden durchschnittlich nur einige hundert Mark jährlich angenommen, so erreicht der Gesamtbetrag für Unter­halt und Erziehung, mit Zinseszinsen gerechnet, bei jedem Mann in seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahre etwa zwanzigtausend Mark. Bei zwanzig Millionen also die geradezu unfaßbare Summe von vierhundert Milliarden, während die gesamten Staatsschulden aller Länder der Erde nicht den vierten Teil ausmachen!

Gerade in dem Zeitpunkte, wo diese Millionen Menschen in die Lage gekommen waren, das in ihnen angelegte Kapital zum Vesten ihres Heimatlandes durch eigene Tätigkeit zu verzinsen, verließen sie dieses und führten so das Kapital der Neuen Welt zu, ohne daß diese auch nur das Geringste dafür geopfert hätte. Europa hatte die Ausgaben, Amerika den Gewinn.

Zum weitaus größten Teil waren diese Menschenmassen für die ihnen in Ämerika erwachsenden Aufgaben besonders befähigt, denn es gehört für einen jungen Mann nicht wenig Tatkraft, Entschlossenheit und Wagemut dazu, die gewohnten heimatlichen Verhältnisse mit ganz neuen in einer fremden Welt zu vertauschen, die Fahrt über das Weltmeer zu unter­nehmen und in einein Lande, dessen Sprache er nicht spricht, und dessen riesengroße Verhältnisse ihn: unbekannt sind, sich ein neues Leben zu schaffen.

Diese zwanzig Millionen, zu denen inr Laufe der ver­flossenen fünf Jahrzehnte noch Millionen Nachkommen gelangten, bildeten das Hauptelement der amerikanischen Arbeiterarmee. Sie waren es, die die Städte bevölkerten und die Ent Wicklung der Industrien ermöglichten, die in den Berg­werken die mineralischen Schätze zutage förderten und die großen Prärien des Westens besiedelten eine Armee von Jndustrie- soldaten und Bauern, wie es nie eine größere mit segens­reicherer Tätigkeit gegeben hat. Den Generalstab aber und die Offiziere stellten die Dankees, vornehmlich aus den alt- entwickelten Neuenglandstaaten. Dort hatte sich, schon im siebzehnten Jahrhundert beginnend, ein englisches puritanisches Element angesiedelt, das bis zur Mitte des neunzehnten Jahr­hunderts auf sich selbst angewiesen war. Die Pioniere dieser puritanischen Besiedlung Neuenglands, also Massachussets, Maine, New Hampshire, Connecticut, Rhode Island und Vermont, waren diePilgrimfathers", die auf dem Segel­schiffeThe Mayflower" an: Plymouth Rock an den Neu­englandküsten landeten. In den Ansiedlungen, die sie grün deten, in Boston, Salem, Lowell, Providence usw., erhielten sich bis ins vorige Jahrhundert die alten streng puritanischen Gesetze, die berüchtigtenBlue Laws", wohl die strengsten, die je geschaffen wurden. Sonntagsheiligung, Verbot aller geistigen Getränke, Beschränkung des Rauchens, des gesellschaftlichen Ver­kehrs und der Unterhaltungen haben sich bis auf den heutigen Tag erhalten.

Im allgemeinen aber hatte ihre teilweise Aufhebung eine merkwürdige Wandlung in den Neuengländern zur Folge. Seit Jahrhunderten waren sie in ihren persönlichen Freiheiten beschränkt gewesen, und die Spannkraft, die sich in ihnen an­gesammelt hatte, kam nun durch desto größeren Wagemut und Unternehmungsgeist zum Durchbruch. Wie die Spiralfeder einer Uhr beim Springen ihrer Fesseln sich heftig vibrierend ausdehnt, so erweiterten auch diese neuenglischen Puritaner ihre Tätigkeit nunmehr über den ganzen Kontinent. Aus ihnen rekrutieren sich hauptsächlich die Schöpfer des gewaltigen Eisen­bahnsystems Amerikas, das ausgedehnter ist als jenes von ganz Europa, die industriellen Pioniere in den Eisen- und Kohlengebieten, die sogenanntenKapitäne der Industrie", und wie man einst Jupiter darstellte mit einem Bündel von Blitzen in der Hand, so kann man heute diese Vanderbilts und Hills, Morgans und Huntingtons darstellen mit einen: Bündel von glänzenden Stahlschienen, die sie von Ozean zu Ozean über den Weltteil warfen. Sie waren der Generalstab, der die Arbeiterarmeen Europas leitete überall dorthin, wo man sie zur Entwicklung des Landes und zun: Siege über­feine Reichtümer brauchte. Die letzteren sind indessen so groß, die Entwicklung ging so rasch vonstatten, daß auch diese Millionen nicht hinreichten, um damit gleichen Schritt zu halten, und daß auch heute noch die vielen Hunderttausende von Einwanderern jedes Jahr in dem ungeheuren Schmelztiegel der Nationen, in diesen: Amerika verschwinden. So dachte denn der Generalsiab Amerikas an die Verwertung der Natur­kräfte, die sich dort in so großer Menge den: Schaffensdrang des Menschen darbieten, und was darin geleistet worden ist, habe ich im Laufe der letzten dreißig Jahre selbst mit beobachtet oder unt­erlebt. Bei meiner ersten Reise durch den Nordwesten kan: ich an den oberen Mississippi. In der Nähe des hölzernen Präriestädtchens St. Paul stürzte derVater der Ströme" rauschend und brausend über eine zwölf bis fünfzehn Meter tiefe Felsbank herab, einen Niagara bildend, umgeben von bewaldeten Ufern

1906. Nr. 14.

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