566
auf die reine, edle Schönheit hielt, Zu diesen Tongewirren gesagt hätte..."
Durch den feinen Flockenfall, der leise über den Garten draußen niedersank, kamen ein paar junge Leute von dem Rabenhause her auf die Villa zugeschritten.
Und Frau von Hellstein nickte ihnen vom Fenster aus zu. „Da kommen sie schon!"
Gleich darauf gab es Stimmengewirr auf der Diele — vergnügte junge Stimmen und die zurückhaltend ergebene des alten Geidel — dann ging die Tür auf, und die ersten von den „Raben" traten ein. . .
Als Georg gegen Abend nach Hause schritt, war er erfüllt von all den Eindrücken des Tages.
Weicher Schnee lag auf den Straßen, und immer noch weiter sanken die Flocken in dichtem Fall. Sie setzten sich ihn: auf den Hut und Winterrock und schwebten ihm, sachte sich wiegend, vor den Augen nieder, daß er nur wenig Schritte weit vor sich hin sehen konnte. Und doch war ihm so wohl im Schreiten durch den windstillen Abend.
Er sah den Kreis von frohen und vergnügten Menschen wieder vor sich, wie sie da in dem ernsthaften, schönen Speisezimmer um Frau von Hellstem zu Tisch gesessen hatten, und dachte der Gespräche, die da von Mund Zu Mund gegangen waren. Er durchlebte wieder die Stunde nach Tisch, da die Hausfrau sich zurückgezogen hatte und die „Raben" und er dann im Vibliothekzimmer saßen und in den Bilderwerken blätterten, während einzelne weiterdiskutierten. Und dann das Schönste von allem: das Spiel der „Raben" im Musikzimmer.
War das Musik gewesen . . .
Erst der junge Russe — Ossip Schmerlin — ein magerer, hochgewachsener junger Mensch mit gelblicher Haut und kohlschwarzem Haar. Einer von den „Raben", er wußte nicht mehr welcher, hatte Georg erzählt, daß der Schmerlin ein armer Jude aus einem russischen Dorfe sei — er hätte nie studieren können, wenn Frau von Hellstein sich nicht seiner angenommen hätte. Alles dankte er ihr, alles -— auch die wertvolle Geige, die er da in Händen hielt. Aber wie spielte er . . .! Georg hatte nie gewußt, daß eine Geige so singen könne. Ganz hingenommen war er von dem Spiel. Als Schmerlin geendet hatte, war Frau von Hellstein auf ihn zugegangen und hatte seine beiden Hände genommen. „Ich danke Ihnen, mein lieber Ossip!" Und da war der hagere, gelbe Kopf des Geigers ganz rot geworden vor Glück, und wie bedingungslose Treue und Dankbarkeit hatte es aus den dunkeln Augen geleuchtet.
Dann hatte der junge Sänger Fournier gesungen, ein hübscher stattlicher Mensch non etwa zweiundzwanzig Jahren, aus dessen Wesen ein schlecht verhehltes Selbstbewußtsein sprach. Er gab die Arie aus einer Rolle, die er studierte. Seine Stimme war groß und tönend, und doch, das, was dem Vortrag von Ossip Schmerlin die Innigkeit und Tiefe gegeben hatte, das fehlte ihr. Und nach dem Sänger war das Trio gekommen — ein wunderbares Werk des alten Haydn. Falk hatte das Cello gespielt, ein Herr Weber die Geige, und am Klavier hatte Eugen Tramm gesessen, der älteste der „Raben".
Wie ein Strom hatte diese Musik Georg ergriffen. Da fluteten die Töne und Melodien in breiten Wellen und trugen ihn und hoben ihn und klangen an, an all' sein Fühlen. Als ob er träumte, war ihm zumute. Tausend Bilder schlossen sich auf in seiner Seele. Erinnerungen wurden wach und sehnsüchtige Wünsche -— Schwermut stieg auf in ihm und Schmerz, dann aber kam mit gütig milden Schritten die Heiterkeit und wischte alles Trübe hinweg von seiner Seele . . .
An zu Hause hatte er denken müssen. Er sah sich an der Hand der Mutter als kleinen Buben in der Kirche und sah den Priester, der das Allerheiligste zur Wandlung hob, während die Menschen alle das Knie zur Erde beugten -— er sah sich mit Sephi neben dem Harmonium vor Heinrich Gerold stehen und hörte ihre eigenen Stimmen, wie sie zu diesen
ernsten, düsteren Klängen, die so voll Weh und Trauer waren, die Kinderlieber ihrer frühen Jugend sangen. Und er sah auch die Stunde, da Herr Gerold zur Erde wiederkehrte, und hörte das Rauschen der schneebeladenen Trauerweiden und das Flüstern des ewigen Friedens da draußen: „Fürchte dich nicht, ich bin bei dir ..." Dann aber ward es lichter in den Tönen. Die Mutter! Wie sie jetzt wohl seiner dachte — und er und Sephi, wie das werden mochte!
Leise, während die Musik zwischen den Sätzen für Sekunden schwieg, hatte er auf zu Frau von Hellstem gesehen. Sie saß still, das zitternde verträumte Lächeln auf dem alten, knitterigen Gesichtchen. Und ihre ein wenig geröteten Augen hingen an dem Bilde Franz von Hellsteins über dem Flügel und waren doch wie fort in weiter Ferne.
Als das Rondo des dritten Satzes verklungen war, nickte sie mit dem Kopf.
„Haydn," sagte sie dann, und ihre Stimme zitterte dabei ein wenig. „Haydn.. . der hat die Tiefen unseres Menschentums gekannt. . . Und jetzt glaubt jeder, daß es seine Tiefen sind, durch die er führt. . . Haydn..." Und sie wischte sich mit dem zarten Tüchlein über die Augen und warf noch einen Blick auf das Bild des lang' verstorbenen, schönen Mannes mit dem dunkeln Lockenhaar und dem kühnen Auge.
Sie lächelte schon wieder still und gütig, als sie den drei jungen Männern die Hand reichte.
„Schön, schön haben Sie das gebracht..."
Dann war noch eine Stunde in angeregtem Plaudern beim Tee gefolgt. Um schöne und edle Dinge war die Rede gegangen, um große Menschen und ihre Schöpfungen. Da hatte einer von einem neuen Buch erzählt, das er gelesen, dort war man auf ein Werk klassischer Malerei gekommen. Und jeder gab zu diesen Hin- und Widerreden das Seine. Auch Georg, dem die prunklos stille Einfachheit des- Tones die Zunge löste. Über dem allem aber hatte die feine alte Frau gestanden in ihrem matten grauen Kleid. Ganz sachte führte sie die Fäden, mit einem Lächeln lenkte sie die Dinge, daß nirgend Zwang und nirgend Härte war und doch kein Mißton diese Stunde trübte.
Als eine Pause eingetreten war, hatte Georg sich empfohlen. Voll Güte hatte Frau von Hellstem dabei seine Hand gehalten. „Über acht Tage — nicht wahr? Ich meine, wir wollen das ein für alle mal gesagt sein lassen. Wenn Sie nichts Besseres Vorhaben, mein lieber Herr Bang, dann kommen Sie des Sonntags zu mir und Zu meinen ,Raberü. Grüßen Sie mir Herrn Gutkind — ich 'lasse ihm danken, daß er Sie zu mir geschickt hat. Und wenn Sie Ihrer Frau Mutter schreiben, so bringen Sie ihr gleichfalls meine Grüße."
Georg hatte die kleine welke Hand geküßt, ehe er gegangen war.
Und mit herzlichem Händedruck war er auch von Falk, dem Cellisten, geschieden, von Ossip Schmerlin und von Joseph Teltscher. . .
Als er nach Hause kam, da gab es ein Fragen schier ohne Ende:
„Aber nu, Pang — so lange wechzepleiben! Kanz ängstlich is' uns schon kewesen! Nu haben Se denn ooch kegessen? Cha? — Schließlich haben wir cha ketacht, daß Se bei der Frau von Hellstein zu Tisch keplieben sein werden. Und nu erzählen Se doch — das 's cha wohl e kanz sonderpare alte Dame? Nu, was mer so hert, se soll cha immer e kanzen Haufen chunger Leite um sich haben..." Frau Karola Thienemann konnte gar nicht zur Ruhe kommen.
Und Georg erzählte. Er mußte berichten, was es zu Tisch gegeben hatte, was Frau von Hellstein über Herrn Gutkind gesagt hätte, und daß er über acht Tage wieder dort eingeladen sei. —
Bon da ab waren Frau von Hellsteins Villa, der Garten darum und das Rabenhaus der Ort, dahin das Leben Georg Bangs zu seinen sonntäglichen Andachtsstunden ging.