667
Hier fand er nach dem Arbeitsdienst der Woche die Freude und die Schönheit, und hier genoß er immer wieder Augenblicke gleich jenen, da Lei seinem ersten Hiersein das Trio Meister Haydns von allen Tiefen dieses Lebens zu ihm gesprochen hatte. Und er fühlte, daß sein Dasein wuchs, daß er reifer und stärker wurde in diesen Augenblicken.
Aber auch Heiterkeit fand hier den Weg zu ihm und neue Freundschaft. Zwei von den Sieben waren es vor allen, die Georg nähertraten — die beiden, die ihn schon gleich anfangs am meisten angezogen hatten, Falk, der Cellist und Joseph Teltscher, der Bildhauer. Sie fanden sich mit ihm nicht nur bei dem sonntäglichen Zusammentreffen bei Frau von Hellstem enger als die anderen, auch außerhalb der Villa traten sie bald in näheren Verkehr mit ihn:. Und beide junge Künstler, so verschieden sie auch waren in ihrem Wesen und so wenig sie untereinander sich verstanden, gewannen tiefere Bedeutung für die Entwicklung des jüngeren Freundes.
Was Georg Bang so sehr zu dem Cellisten zog, das war ein seltsam aus Bewunderung und Sehnsucht gemengter Drang, ein Trieb, den Freund mit allem Kult der Hingabe und des Gefolgschaftsdienstes zu umgeben. Der nämliche Trieb, der einstmals Georgs Knabenfreundschaft zu Hans Gerold sein Gepräge gab, der ward auch in dem Jüngling hier noch einmal wach. Er ließ all die guten Seiten Falks Georg
noch glänzender erscheinen und milderte die Schwächen in dem Bild des Freundes.
Falk war nahezu vier Jahre älter als Georg, ein schlanker, junger Mann mit edel geschnittenem Gesicht, freiem blauen Auge und weichem gewellten Haar. Sein Wesen war voll Feuer und voll Freudigkeit, und seine ungezwungene Frische, seine sorglose Leichtigkeit erschienen dem mehr stillen Georg als wunderbare Gaben. An allem konnte sich die Phantasie des Musikers entzünden, dann aber waren stets ein Trieb, sich mitzuteilen, und eine Kraft, den anderen mitzuziehen, in ihm, denen sich Georg so gern hingab. Er fühlte die mühelose Überlegenheit des Freundes und bewunderte ihn darum, ohne nach den Grenzen dieser Überlegenheit zu forschen. Er folgte den Gedanken, die jener ausgab, und ging noch weiter auf deren Wegen, wenn Falk schon lange wieder auf neuen, fern dem alten Stoff liegenden Gebieten sich tummelte. Und er merkte kaum in all' seiner Bewunderung für diese geistvolle Leichtigkeit, daß seines Freundes Wesen meist doch nur an der Oberfläche all der Dinge blieb, die in ihm selber sich in zähem Festhalten und Weiterschreiten langsam doch Schritt für Schritt vertieften. So ward Karl Falk zum fruchtbaren Anreger für Georg Bang, und aus den Gesprächen über Gelesenes, Gehörtes und Geschautes, aus den gelegentlichen gemeinsamen Gängen in das Museum, in das Theater und in Konzerte des Konservatoriums wuchs für Georg ein Teil des Lebens, das nun neben der sehnenden Erinnerung die Abende in seiner schmalen himmelblauen Stube füllte.
Und noch etwas wob sich da um den Musiker, das Georg mit geheimnisvoller Macht anzog, das ihm Scheu einflößte und doch den Freund ihm näher brachte zugleich: Falk hatte eine stille Liebe. In ganz beiläufigen Bemerkungen, in halben, hastig hingeworfenen Sätzen hatte er das mehrmals angedeutet, immer in einer Weise, die erkennen ließ, daß er in Georgs Schweigsamkeit sein tiefstes Vertrauen setzte, und daß Georg der einzige sei, dem er von diesem besten Schatz seines Lebens sprach. Georg aber hatte dann stets ernst und erregt zugehört. Und wieder war dann, wie ein Echo aus
seiner Knabenzeit, ein Gefühl der Hingabe an das Schicksal seines Freundes in ihm, so stark, so bedingungslos: er hätte sich lieber das Herz aus dem Leibe reißen lassen, als Karl Falks Geheimnis jemals preiszugeben. Er hielt, was der ihm anvertraute, heilig und hoch, als wäre es das Veste seines eigenen inneren Erlebens.
Einmal auch hatte Falk ihm ein Gedicht zu lesen gegeben, das er gemacht hatte. Es hieß „Traumbild" und sprach von dem Erscheinen und Verschwinden der sehnsüchtig Geliebten im
fieberschweren Traum. Ganz ergriffen von den Versen und zugleich dankbar hingenommen von dem Beweise des Vertrauens, hatte Georg das Blatt damals zurückgegeben. Ihm schienen die Verse schön wie irgendwelche. Er mußte an Heinrich Heines „Buch der Lieder" dabei denken, das er kurz vorher erst gelesen hatte. Es stand fest in ihm, daß Falk auch als Dichter- Bedeutendes leisten würde.
In der Aussprache, die damals zwischen den beiden jungen Menschen stattfand, bot der Musiker Georg Bang das Du an. Und der nahm es wie ein köstliches Geschenk.
Seitdem sprach Falk öfter als vorher in dunkeln Worten von seiner Liebe, und Georg glaubte aus allen: zu erkennen, daß Hindernisse sich zwischen den Freund und die Geliebte stellten. Aber er fragte nicht, er hätte es nicht übers Herz gebracht, auch nur mit einem Wort von sich aus an dem zu rühren, was den anderen beschäftigen mochte. Nur seine Gedanken umstrichen und umschwärmten diese stille Liebe und verklärten das Leid des Freundes in romantischen Phantasien.
Dann, bei einem Schülerkonzert im Konservatorium hatte Falk „sie" ihm gezeigt — ein rosiges junges Geschöpf von großer Lieblichkeit. Sie saß neben einer anderen jungen Dame, die um einige Jahre älter sein mochte, ihrer Freundin, wie Falk sagte. Und Georg sah, wie sich während des Konzerts die Blicke der beiden jungen Menschen, die einander liebten, immer wieder trafen, und wie in den großen, wunderbar sanften braunen Augen des Mädchens, wenn sie hinüberblickte zu Falk, der an einer Marmorsäule des einen Seitenganges lehnte, die sehnsüchtige Liebe lag.
Auf dem Heimweg war Falk lange schweigsam.
Er hatte den Kragen des Winterrockes aufgeschlagen und den breitrandigen schwarzen Hut in die Stirn gedrückt. Dabei blickte er wie in Sinnen verloren mit auf die Brust gesenktem Haupt vor sich hin, und mehrmals seufzte er und schüttelte leise den Kops.
Dann sah wohl Georg voll scheuer Teilnahme zu ihm hinüber. So schritten sie beide wortlos dahin durch die nächtlich stillen Straßen, die ein feines stäubendes Regengeriesel erfüllte.
Und plötzlich begann Falk zu reden, immer noch ohne Georg anzusehen und ohne seine Schritte zu hemmen. Ein seltsam düsterer Ernst, eine getragene Feierlichkeit war in seiner Stimme:
„Ja, mein Junge, jetzt hast du sie gesehen, und jetzt wirst du vielleicht verstehen, was sie mir ist. Alles! Mein guter Engel, meine Heilige, mein Talent — mein ganzes Leben. Denn wenn ich jemals etwas Bedeutendes erreiche in meiner Kunst, dann ist's durch Else, und wenn ich heute schon ein anderer Kerl bin als früher -- ich meine, anders in meinem inneren Wesen, in meiner Weltanschauung — dann ist das ihr Einfluß, dann verdanke ich ihr das. Du kennst mich nicht lange genug, um das beurteilen zu können; ich war ja früher ganz anders.
Du hast vielleicht gesehen, wie viele von den jungen Konser-
vatoristinnen ich kenne und grüße. Da sind doch gewiß bildhübsche Mädchen darunter, und ich sage dir —na, um nicht eine davon kümmere ich mich heute mehr! Überhaupt die anderen Weiber . . . Mir ist ja, als ob es nur noch diese eine gebe. Und wie sie mich liebhat, wie sie an mich glaubt, an jedes Wort, an mein Können, meine Zukunft, wie sie mich
in allem versteht! Aber ich weiß auch, was ich ihr für ihr
wunderbares, so kindlich reines Vertrauen schuldig bin. Oh, ich wäre ja der größte Schuft . . . Mensch, Georg, du hast ja keine Ahnung ..."
Er blieb stehen und wendete sich mit einer raschen Bewegung Georg zu. „Weißt du, wer sie ist?"
Georg stand gleichfalls still. Er hob den Kopf und sah dem Freund erregt und fragend in die Augen. Er fühlte nicht, wie ihm die feinen, sprühenden Regentröpfchen schars gleich Nadelspitzen ins Gesicht stäubten und sich fest setzten an seinen Brauen. Hingebende Teilnahme an den Freund und an sein Schicksal erfüllte ihn. „Nein," sagte er leise.
1906. Nr. 26.
59