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heim kehrend, sein Haus niedergesengt, seinen Acker verwüstet sah. Bon aller Welt abgeschnitten, lag der Landstrich da. Handel und Wandel stockten, kurzum, es herrschte ein geradezu grauenhafter Zustand.
Um so erfreulicher ist das Bild des Aufschwungs, der unmittelbar nach der wirtschaftlichen Erschließung des Landstrichs durch moderne Verkehrswege einsetzte. In den Jahren 1850 bis 1857 wurden die Kanäle zwischen den Seen, dem Mauer-, Löwentin- und Spirdingsee, wieder fahrbar gemacht, im nächsten Jahrzehnt wurden Zahlreiche Chausseen gebaut, und 1872 war die ostpreußische Südbahn bis zur Grenzstation Prostken vollendet. Wer die Wirkung dieser Kulturtaten auf die masurische Bevölkerung mit erlebt hat, muß sie als wunderbar bezeichnen . .
Auf schmalen Leiterwagen, an denen, buchstäblich genommen, sich nicht ein Lot Eisen befand, fuhr der Bauer Zum Markt. Selten hatte er mehr als einige Mandeln Eier, wenige Pfund Butter und, wenn es hoch kam, einen Scheffel Getreide zu verkaufen. Aber er mußte zum Markt fahren! Das war die Ergötzlichkeit seines Daseins, der einzige Tag der Woche, an den: er sich mit greulichen Knoblauchswürsten, gebratenen Fischen, Klopsen und ähnlichen Delikatessen gütlich tat. Dazu Schnaps im Übermaß genossen . . . nicht nur von den Männern, sondern auch von den Frauen! Widerliche Szenen spielten sich auf der Rückfahrt ab. Mühsam schleppten die kleinen, struppigen Gäule den mit betrunkenen Menschen vollgepackten Wagen durch den tiefen Sand. Und noch immer kreiste die Flasche . . . Wer frühmorgens ein Schwein zum Markt getrieben, wurde in sinkender Nacht von dem borstigen Vierfüßler, der den Weg nicht zum ersten Male machte, heimgeleitet. Und mancher Bauer konnte von Glück sagen, wenn er andern Tags früh in einem Erbsenfeld erwachte und sein vierbeiniger Lebensgefährte noch neben ihm lag. Denn nicht allzuselten hatten flinke Gesellen den: Schlafenden den Strick aus der Hand genommen, das Schwein fortgetrieben und noch während der Nacht geschlachtet.
Noch im Jahr 1867 war es den Behörden bei einer Tpphusepidemie unmöglich, die Befolgung der einfachsten sanitären Vorschriften zu erzwingen. Selbst bei den größeren Besitzern starrte die Wohnung von Schmutz. Und heute? Überall massive Häuser und Stallungen mit freundlichen roten Dächern. Die Bauern lesen eine deutsche Zeitung, die am weitesten vorgeschrittenen sogar ein landwirtschaftliches Fachblatt, sie drai- nieren den Acker, meliorieren die Wiesen, verwenden künstlichen Dünger, füttern die Kühe im Stall, entrahmen die Milch mit dem Separator, kurzum: sie stehen mit ihrem Wirtschastsbetrieb den Deutschen durchaus nicht nach. Bis in die elendesten Tagelöhnerhütten ist eine Spur reinerer Daseinsfreude gedrungen. Zu dieser Entwicklung hat aber auch die Enthaltsamkeitsbewegung, der Kampf gegen den Alkohol, viel beigetragen.
Mit dem wirtschaftlichen und geistigen Aufschwung ist das Charakteristische des Volksstammes in Kleidung und Sitten reißend schnell geschwunden. Die grauen Röcke aus selbstgewebtem „Wand", die umfangreichen Mäntel mit sechs, sieben Kragen, die mit Riemen verschnürten Sandalen aus Leder oder Bast sind nirgends mehr zu finden. Ja, sogar die kurzen Pelze aus unbezogenen Schaffellen, die von dem Masur fast das ganze Jahr hindurch getragen wurden, sind schon selten geworden. Beinah ebenso schnell sind leider auch die alten Überlieferungen geschwunden. Der Masur war daran nicht arm. Fast jede Gegend hatte ihre Lokalsagen, die an ein geschichtliches Ereignis anknüpften. Versunkene Burgen mit unermeßlichen Goldschätzen, die in einen Berg verzaubert, der Erlösung harren, spielen darin eine Hauptrolle. Auch die Helden des Stammes saßen in unterirdischen Höhlen und warteten auf die Morgenröte des Tags, der sie zum Befreiungskampf gegen die deutschen Bedrücker erwecken würde. Sie werden nie erlöst werden, denn ihr Volk hat sie vergessen. Mit fliegenden Fahnen ist es zu den Deutschen ubergegangen.
Geradezu wundersam ist das Eindringen der deutschen Märchen- und Sagenstoffe. Die Masuren wußten noch vor
fünfzig Jahren sinnige Tierfabeln von Fuchs und Wolf zu erzählen. Sie besaßen auch ihre eigenen Schildbürger, die Dom- brojenes, die Bewohner des Dorfes Dombrowken. Und Ortschaften dieses Namens gibt es in Masuren ziemlich viel. Aber was jetzt von Märchen, Tierfabeln und Schildbürgerstreichen in masurischer Sprache erzählt wird, das ist zu großem Teil deutsches Eigentum, allerdings so völlig verarbeitet, daß der Volksstamm sie als sein geistiges Besitztum zu betrachten gewohnt und berechtigt ist.
Weitaus langsamer schwinden die alten Sitten und Gebräuche. Die meisten haben sich in den einsamen Walddörfern der Johannisburger Heide erhalten, in denen die Petroleumlampe noch als ein Gegenstand des Luxus gilt. Dort versammeln sich die Margellen (Mädchen) des Dorfes mit ihren Spinnrocken, die Knechte mit dem Stück Netz, an dem sie stricken, abends in der geräumigen Wohnstube eines Bauernhauses. Auf dem offenen Herd flackert lustig ein Helles Feuer aus Kienspänen. Langsam ziehen die dichten Schwaden, die von dem selbstgebauten Kanaster aus den kurzen Pfeifen der Männer aufsteigen, der Herdöffnung zu. In lebendiger, bilderreicher Sprache erzählt jemand aus der Versammlung ein Märchen. Der Stoff ist jedermann bekannt. Aber der Vortragende schmückt ihn mit neuen Zutaten aus, so daß die Anwesenden ihm gespannt zuhören.
Die Phantasie der Masuren ist überhaupt sehr lebhaft. Fast in jedem Dorf gibt es einige Männer und Frauen, die durch Erzählungen verschiedener Art eine ganze Versammlung stundenlang unterhalten können. Dies Talent zum Jmprovi- sieren äußert sich auch noch in anderer Weise. Nicht selten werden kleine Neckereien bei den abendlichen Zusammenkünften in gesungene Verse gekleidet, deren Text ebenso vom Augenblick geboren wird wie die Melodie. Jubelnd wiederholen die Anwesenden das kleine Spottlied zwei- und dreistimmig. Der Angegriffene erwidert, ein Dritter, ein Vierter mischt sich ein — so entsteht ein Sängerkrieg, der alle Beteiligten aufs höchste belustigt.
Nach dem Krieg von 1870 / 71 , der in der Entwicklung des masurischen Volksstammes eine bedeutsame Rolle spielt, konnte man häufig von den Landwehrmännern, die vor Belfort gelegen und unter General v. Werder in dreitägiger Schlacht den Durchbruchsversuch der französischen Ostarmee zurückgewiesen hatten, romantische Schilderungen der Kämpfe vernehmen. Ein solcher Abend wird mir ewig unvergeßlich bleiben. Ein einfacher Waldarbeiter, der sich bei Belfort eine schwere Verwundung und das Eiserne Kreuz geholt hatte, besang nach einer Melodie, die einem der damals entstandenen Soldatenlieder ähnelte, die schweren Kämpfe, an denen er teilgenommen hatte, in einer langen Reihe improvisierter Verse. Allerdings, wie ich hinzufügen muß, unter der anstachelnden Wirkung des Schnapses, der dem sonst so schweigsamen Mann die Zunge gelöst hatte. Der Refrain, der von allen Anwesenden mit großer Begeisterung mitgesungen wurde, lautete etwa so: „Wir Masuren waren auch dabei, wir waren gute deutsche Soldaten!"
Es ist mir noch deutlich erinnerlich, daß der Sänger eine lange Reihe von Männern aufzählte, die verwundet oder gefallen waren, daß er die Nacht schilderte, in der sie bei harten: Frost ohne Lagerfeuer auf der bloßen Erde kampierten und dem General, der sie zu mutigem Ausharren ermahnte, mit fröhlichem Mut erwiderten, die Masuren seien an Kälte gewöhnt. Nach mehreren Strophen gab's eine Unterbrechung . . . Da wurde der Sänger mit einem Gläschen Likör gelabt. . . Und als ich einige Jahre später Gustav Freytags „Ahnen" mit fiebernden Pulsen verschlang, da machte mir der Sang des Spielmanns von den Taten des Helden Ingo das Auge feucht, denn er ließ in mir die Erinnerung an den schlichten Sänger meines Volksstammes aufleben, der in schmucklosen Versen ausströmen ließ, was ihm die Seele bewegte.
Die meisten der alten Gebräuche, die sich erhalten haben, stammen aus heidnischer Zeit oder den Jahrhunderten vor Einführung der Reformation. Zu den letzteren gehört die eigen-