Heft 
(1906) 28
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Er hatte die Hand geküßt zum ersten Male.

Dann war der Schlüssel gedreht worden, die Tür ins Schloß gefallen.

Er schritt durch das Dunkel der Nacht nach Hause.

Wieder wie damals, da Falk ihm von seiner Liebe zu Else gesprochen hatte, ging er durch Lehmanns Garten. Aber jetzt war neues Blühen über all den Beeten und Blum'en- hecken ringsumher.

An einem Jasminbusch, der seine weißen Sterne weit über das baufällige Staket eines der Gärtchen auf den Weg her­überdrängte, blieb er stehen und drückte das Gesicht in die kühlen, duftenden Blüten.

Ihm war es, als legte sich auch über das, was in ihm erzitterte, der milde Duft. Schmerz? Wo war er geblieben? Nur ein Weh war es und das lag still, gleich einem Kind, das sich in den Schlaf geweint.

Sehnsucht ist in Ihnen, Georg viel und starke Sehn­sucht und zu mir haben Sie Vertrauen gefunden . ."

Ihre Worte klangen in seiner Seele, als schritte sie neben ihm einher zwischen den kleinen nächtlichen Gärten und dann durch die Straßen, die still und einsam waren.

Als er nach Hause kam, war es längst dunkel auf der Treppe, und auch über der Wohnung des Herrn August Thienemann und der Frau Karola lag schon die Nacht.

Im Finstern tappte er sich in sein Zimmer, und dort erst machte er Licht. Ein zugedeckter Teller mit belegten Bemmen stand auf dem Stehpult, ein Brief lag daneben. Die Hand­schrift der Mutter.

Da schob er den Teller zurück und hielt den Brief in Händen. Ein Zaudern war in ihm eine seltsam pulsende Erregung, daß er Minute um Minute verstreichen ließ, ehe er das Schreiben öffnete.

Und als er es dann las, da ward das ahnende, erwartende Zittern zu einer jähen Angst und zu so hinnehmendem Schrecken, daß seine Augen kaum den Zeilen folgen konnten, und daß das Blatt ihm in der Hand erbebte.

Mein lieber, lieber Georg! So gern möchte ich Dir auch so Gutes schreiben, wie alles das ist, was Du mir in Deinem letzten Brief von Deinem Umgang bei

^ dieser feinen alten Dame erzählst. Aber in mir ist es so übervoll von Sorge, daß ich immer nur an das eine denken kann, und daß mein armer Kopf bei gar nichts anderm mehr stillhalten will. Mein Georg, ich habe lange geschwankt, ob ich Dir von dem schreiben soll, was uns hier seit Wochen und Monaten quält. Und die Sephi, die doch am allermeisten darunter leidet, hat immer gebeten, ich soll zu Dir schweigen. Ich weiß auch, daß sie sich geschämt hat und gemeint hat, Du könntest sie deswegen weniger gern haben. Aber so bist Du doch nicht! Aber ich habe doch geschwiegen, solange wir

- hier noch Hoffnung hatten, daß es gut werde. Jetzt aber ist das Unglück doch geschehen. Denk Dir, die Mutter von der Sephi und Herr Crispi sind sehr, sehr unglücklich zusammen gewesen. Ich habe Dir einmal geschrieben, daß sie schon vor Weihnachten durch viele Wochen nichts hat von sich hören lassen. Dann gegen Neujahr ist wieder ein Brief gekommen, und da hat sie auch noch einmal das rückständige Geld geschickt. Aber der Brief war ja schon so, so traurig! Die arme Frau ich kann nicht anders sagen, was sie auch verschuldet haben mag! Sie hat geschrieben, daß das Geschäft, das Herr Crispi sich eingerichtet hatte, nicht ginge und viel koste, und daß er oft verstimmt sei. Und dann zwischen dem Kummer war so eine Reue in dem Brief und eine Zärtlichkeit Zu der Sephi. Da war ein Satz: ,Danke Gott, Du mein Kind, daß Du Lei dieser guten Frau bist ich Hab' es nie gewußt und gewürdigt, was das bedeutet: bei guten Menschen sein!' Georg, jetzt haben wir erfahren, daß er so roh zu ihr gewesen ist!

Die feine, schöne Frau, die hat er geschlagen und be­schimpft. Und alles hat sie ihm hingegeben, was sie gehabt hat, aber es war alles verloren, mehr noch als im Geschäft auf der Börse. Und wir haben das ja doch nicht gewußt sie hat ja gar nicht mehr geschrieben, so hat sie sich geschämt und gegrämt. Aber dann ist plötzlich vor vier Tagen die Depesche von ihm gekommen, ob seine Frau in Wien sei und bei uns gewesen wäre. Und wir wußten doch von gar nichts . .! Dann haben wir es erfahren: sie ist nach einem Streit, den er mit ihr gehabt hat, während er noch in einer Herrengesellschaft war, von ihm fort nur mit einer Handtasche und bei­nah ohne Geld, und niemand weiß, wo sie ist! Wir sind ja alle so voll Sorge mein Gott, die arme Frau und unsere arme kleine Sephi! Auch die Polizei ist verständigt worden, aber man weiß gar nicht, wohin es die arme Frau getrieben hat. Wenn sie sich nur nicht in ihrer Verzweiflung das Leben genommen hat! Mein Georg, wie furchtbar ist das alles für dieses gute Kind, das ich liebhabe, wie wenn es Deine Schwester wäre. Was auch kommt, sie wird bei mir bleiben, wir beide Georg, Du und ich, wir sind ja dann die einzigen, die sie noch hat. Schreibe ihr, Georg, schreibe ihr einen lieben Brief, sie ist wie niedergebrochen unter all diesem Furchtbaren. Und wenn je ein Mensch Liebe gebraucht hat, dann ist es das arme Kind von Heinrich Gerold. Lebe wohl, mein Bub, ich selbst bin ganz ermattet von diesen Tagen. Ein guter teilnahmvoller Freund ist uns wie immer der Herr Schneeberger in dieser Zeit ge­wesen. Ich küße Dich, Du mein Einziger. Sowie ich irgendwelche Nachricht habe über Sephis Mutter das Wort ,Frau Crispi' will mir gar nicht aus der Feder so schreibe ich Dir gleich. Vergiß uns nicht bei all den lieben Freunden, die Du dort gewinnst. In treuer Liebe

Deine Mutter."

Das war's. . .

Georg las den Brief und starrte auf das Schreiben und las ihn wieder.

Nun war ein Sturm in ihm, ein Jagen der Bilder und Gedanken, ein Zerren, Zittern und Drängen, daß er wie im Krampf mit beiden Händen die Platte des Pultes umgriff, um sich aufrecht zu halten.

Sephi! Er sah sie vor sich, blaß und mit den wehen, trauervollen Augen, schmal und scheu und doch mit dieser tiefen Zuversicht. In dem ernsten Trauerkleidchen stand sie vor ihm wie damals, da sie mit ihrer Mutter angekommen, da sie mit ihm durch die Stadt gegangen war. . .

Du! Du!" Und jetzt stand sie wieder an der Pforte von neuem Leid.

Dann jagte wie im Flug an ihm vorüber, was ihn in diesen Tagen erfüllt hatte, so ganz erfüllt hatte, daß kaum ein Gedanke bei der gewesen war, der sein ganzes Leben gehören sollte, und mit der ihn sein Bestes verband! Er sah sich mit Mariane Molenaar durch die stille Straße gehen, in deren nächtlichem Schatten die zwei Gestalten vor ihnen verschwammen, und hörte sich reden seltsam fremd, als spräche ein anderer neben ihmWissen Sie denn, wie lieb ich Sie habe?"

Da griff es ihm wie mit Krallen ins Herz, die Hände krampften sich ihm zusammen, und ein wundes Weh war in ihm, daß er nichts, nichts fühlte als das. Nur ein Gedanke über all' dem Schmerz: Mit eigenen Fäusten hatte er das Beste, was das Leben ihm zu geben hatte, vernichtet und zerschlagen.

Wie schlecht, wie schlecht war das alles! Wie erbärmlich und treulos!

Vor dem Bett lag er auf den Knien und konnte sich nicht fassen in diesem Schmerz, der sich selbst geißelte und immer neue Wunden schlug in Zerknirschung und Reue.

Bis er Tränen fand. . .

Stunden lag er so, und auch sein Weinen war versiegt. Wie ausgebrannt von dieser heißen Flamme seines Schmerzes

1906. Nr. 28.

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