Heft 
(1906) 40
Seite
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steht hier der Kastengeist nicht so hindernd im Weg, wie es in Deutschland bei so verschieden zusammengesetzten Be­völkerungselementen der Fall sein würde und auch bei den Reichsdeutschen der Großstädte in Brasilien der Fall ist. In den Kolonien gilt kein Vorurteil in bezug aus Stellung oder Geburt. An dem nämlichen Tisch sitzen im Vereinszimmer oder in der Kneipe der Chef und seine Angestellten, der Me­diziner oder Jurist neben dem Kaufmann oder dem Hand­werker. Wer sich anständig und gesellschaftlich benimmt, gilt in der Gesellschaft für voll.

Es ist gegen Abend. Auf der Veranda von Beckmanns Hotel versammelt sich die Stammtischrunde zum Abendschoppen. Plötzlich ertönt gellendes Pfeifen in der Nähe. In die schrillen Töne fällt das Geheul einer Dampfsirene, in das sich schon ein anderer neuer Pfeifenton mischt. Und jetzt erschallt von allen Seiten ein Geheul und Gepfeife und Getute. Das sind die vielen kleinen Fabriken und Werkstätten mit Dampf­betrieb, die das Feierabendsignal geben. Jedes von diesen Etablissements setzt seinen Stolz darein, eine Dampfpfeife zu dem allgemeinen Konzert am Morgen, Mittag und Abend zu stellen. Von einiger Bedeutung ist die Joinvillenser Fabrikation von Nägeln, Stacheldraht, Stearinkerzen und Seife, Strümpfen und Webwaren, sowie Möbeln. Dazu kommen die Fabriken, die Mate, Reis und Stärkemehl versandfähig und haltbar machen. Den Hauptplatz als Fabrikations- und Handelsartikel nimmt der Mate ein. Ja man kann ihn geradezu als den Lebensspender und Erhalter der Kolonie bezeichnen. Er hat auf alle Berusszweige Einfluß, und mit dem Steigen oder Fallen der Matepreise hängen Wohl und Wehe von Joinville eng zusammen. Um die wirklichen Kolonien, also die Land­gegend im Gegensatz zurStadt" Joinville, kennenzulernen, verlassen wir letztere aus einer der nach verschiedenen Himmels­richtungen führenden Straßen.

Jede Woche irollt die Postkutsche, vierspännig mit Glöckchen­klang durch die Nordstraße nach der deutschen Ortschaft Säo Bento im Hochland. Ein andere Postkutsche fährt wöchentlich durch die Südstraße nach der neu angelegten KolonieHansa". Wir begleiten zuerst die nach Säo Bento fahrende Post. Von der Nordstraße gelangen wir auf die große Landstraße Estrada Dona Francisca, die den Staat Santa Catharina mit dem Nachbarstaat Parana verbindet. Diese Straße ist chausseeartig, aber infolge des großartigen Frachtwagenverkehrs beständig in sehr schlechtem Zustand. Sie führt durch die Tiefebene von Dona Francisca in westlicher Richtung nach dem Gebirge (Serra Geral do Mar). Herrliche Landschaften, die mit den schönsten Gegenden Deutschlands erfolgreich wetteifern können, breiten sich vor den entzückten Augen des Reisenden aus. Zu beiden Seiten der Straße sind Kolonisten angesiedelt. Ein jeder wohnt wie einst die alten Deutschen - als Freiherr auf seinem Grundstück, das 100 bis 1000 Morgen Flüche enthält. Zäune oder grüne Dornhecken schließen das Grund­stück nach der Straße Zu ab. Nicht allzuweit von der Straße entfernt, steht das freundliche kleine Haus, aus roten Back­steinen oder weißgetünchten Holzwänden erbaut. Hell glänzen die Fensterscheiben, vor denen Blumenstöcke stehen. Das Haus liegt im traulichen Schatten von Orangen und Kaffeebäumchen, über die sich schlanke Palmen der Sonne entgegenstrecken. In: Hintergrund sieht man die Stallungen und Vorratsräume. Auf den um das Gehöft liegenden Grasflächen weidet statt­liches Vieh. An den Vergabhängen ziehen sich die Pflän­zlingen hinauf. Dahinter ist noch Urwald. Es werden hier im Tiefland hauptsächlich angebaut Zuckerrohr, Mais, Mandioka, Kaffee, Reis, Tabak und mehrere Arten Kartoffeln. All Obst zieht man Bananen, Orangen, Pfirsiche, Ananas, Goyabas, Mamao, Apukutas und andere Früchte. Auf den im Hochland (800 Meter ü. d. M.) liegenden deutschen Kolonien aber ge­deihen alle europäischen Getreide- und Fruchtarten. In der seit 30 Jahren bestehenden Kolonie Säo Bento pflanzt man Roggen, Mais, Weizen und Gerste, Hülsenfrüchte, Gemüse und europäisches Obst.

Von der Hauptstraße, die nach Säo Bento führt (von Joinville 96 Kilometer) gehen zahlreiche Nebenstraßen ab, die ebenfalls zu beiden Seiten von Kolonisten besiedelt sind.

Diese freundlichen Ansiedlungen mit den schmucken Ge­bäuden und den saftigen Weiden sind alle vor mehreren Jahr­zehnten durch unendliche Mühsale, furchtbare' Strapazen und zähe, ununterbrochene Arbeit und Ausdauer der Wildnis ab­gerungen. Welche Verzweiflungsausbrüche und bittere Tränen der dunkle Urwald gesehen hat, bis diese Kolonien wurden, was sie heute sind, das kann kein Mensch beschreiben. Meist ist es schon die zweite oder dritte Generation, die auf dem von den Vätern urbar gemachten Grundstück arbeitet.

Wie sieht es nun in der KolonieHansa" aus, in die der neue Einwanderer heute geschickt wird, um dort sich die Heimstätte zu gründen? Es sieht dort ähnlich aus, wie es auf der heute in voller Kultur stehenden Kolonie Dona Francisca vor 40 und 50 Jahren aus gesehen haben mag.

Im tiefen Urwald, 70 Kilometer von Joinville entfernt, liegt der neu angelegte Stadtplatz derHansa". Die zukünf­tige Stadt besteht vorläufig nur aus wenigen kleinen Geschäfts­häusern, dem Direktionshause und dem Einwandererschuppen. Letzterer gewährt dem neuen Kolonisten primitiven Unterschlupf, bis ihm sein Grundstück weit drinnen im Wald angewiesen wird. Sobald dieses geschehen ist, beginnen die Arbeiten und Mühsale des neuen Pioniers der Wildnis: das Eindringen in die Wildnis, der Bau der ersten Hütte, der Umzug mit Weib und Kind, das erste Niederschlagen der Urwaldsriesen, nach vorheriger Säuberung des dichten Unterholzes und Dornen gestrüpps. Glühende, sengende Sonnenhitze, Muskitos, die dem Arbeiter im Wald mit wütenden Stichen blutig zusetzen, Klimakrankheiten, Ungeziefer aller Art, Giftschlangen, orkanartige Regengüsse und vor allem das üppig überall emporwuchernde Unkraut, wo erst vor wenigen Tagen der Boden gesäubert wurde, das sind die Feinde, die der Ansiedler täglich zu be­kämpfen hat. Nicht zu rechnen all' die Entbehrungen, die in der Einsamkeit der Wildnis selbstverständlich sind. Nur Leute, die ausdauernd und zäh Tag für Tag schwer arbeiten gelernt haben, Männer, die sparsam, anspruchslos und energisch sind, halten dieses Leben aus. Zahlreiche Einwanderer aber ver­lassen im ersten Jahr schon das Grundstück, das ihnen von der Kolonisationsgesellschaft auf fünfjährigen Kredit (10 Mark für den Morgen) verkauft wurde, und suchen in den Städten leichtere Beschäftigung auf.

Diejenigen Kolonisten aber, die die ersten zwei bis drei Jahre ausgehalten haben, sehen mit wachsender Befriedi­gung, daß ihre Arbeit nicht umsonst war. Der Boden ist von unvergleichlicher Fruchtbarkeit und lohnt die Mühe und den vergossenen Schweiß reichlich. Der Kolonist fühlt sich als Herr auf eigener Scholle, er kann der Jagd und dem Fisch­fang huldigen, so weit der Urwald reicht. Und wenn er des Sonntags nachmittags vor seiner Haustür sitzt, beim Genuß einer Pfeife selbstgebauten Tabaks, dann macht er wohl schon Pläne, wie und wann er das neue Wohnhaus aus Ziegel­steinen errichten wird. Mit Seelenruhe darf er an die Zukunft seiner Heranwachsenden Kinder denken, denen er mit seiner Arbeit die Lebenswege ebnet, und denen der Kampf mit dem Urwald durch die tägliche Übung leichter ist. Bei diesem Ge­danken erhebt er sich wohl, um mit dem Nachbar über die Mängel der Kolonieschule und deren Abänderung zu plaudern. Über riesige Wurzeln zwischen Baumstümpfen hindurch windet sich der Pfad durch das Dickicht. Zu beiden Seiten zwischen Unterholz und Gestrüpp stehen umfangreiche, hohe Bäume, deren Gezweig über und über mit Orchideen und herabhüngenden Lianen bedeckt ist. Aus der Waldestiese dringt das eintönige Gebrüll der Affen, und da droben in den riesenhaften Zweigen der Kanella lärmen und krächzen Papageien und Tukanos.

Langsam geht der Kolonist seines Weges. Seine Gedanken sind jetzt wohl drüben in der lieben alten Heimat, die er seufzend mit seinem neuen Vaterland vergleicht. Wird es ihm vergönnt sein, einmal zurückzukehren nachdrüben"? Wohl schwerlich!