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und Nickel, Jnvar genannt, hergestellt hat, die von jeder Längenänderung mit der Temperatur durchaus frei ist.
Die Wichtigkeit dieser neuen, durch die Arbeiten im Pavillon von Vreteuil gefundenen Nickelstahllegierung, die nicht nur gegen Temperatureinflüsse, sondern auch gegen magnetische Einwirkungen fast unempfindlich gemacht werden kann, ist für die Technik der Präzisionsinstrumente und namentlich der Uhren ohne Zweifel außerordentlich groß. So leistet jenes internationale Institut weit über den Rahmen seiner ursprünglichen Tätigkeit hinaus der Wissenschaft ununterbrochen wertvolle Dienste.
Noch einen Blick wollen wir vor dem Verlassen des Maß- und Gewichtsbureaus auf die mit den Gewichten zusammenhängende Abteilung jenes Heiligtums exakter Meßkunst werfen. Nach dem manschen System wird die Gewichtseinheit aus der Maßeinheit hergeleitet, indem das Kilogramm den Druck eines Kubikdezimeters chemisch reinen Wassers bei fi- 4 Grad Celsius und auf der geographischen Breite der Pariser Sternwarte darstellt. Das Normalkilogramm wird durch ein im Internationalen Maß- und Gewichtsbureau aufbewahrtes entsprechendes Platingewichtsstück gebildet.
Die letzte Abbildung gibt ein Bild des Meßsaales im Pavillon von Vreteuil, wo die schärfsten Präzisionswagen auf
gestellt sind. Unter Anwendung der größten Vorsichtsmaß regeln, was die Fernhaltung mechanischer und thermischer Einflüsse von den Wagen betrifft, ist man dahin gekommen, noch Vioo Milligramm Gewichtsunterschied wägen zu können. In der Tat eine erstaunliche Leistung der Wägetechnik, die sich den vorher erwähnten Erfolgen der Meßkunst (Grenze ^00 Mikron) ebenbürtig zur Seite stellt.
Zum Schluß dieses kurzen Blickes in das Internationale Maß- und Gewichtsbureau bei Paris dürfte es nicht ohne Interesse sein, die 23 Staaten zu kennen, die das hinsichtlich der Einfachheit und Wissenschaftlichkeit vorzügliche metrische System bisher angenommen haben. Es sind dies Deutschland, Österreich- Ungarn, Frankreich, Belgien, Brasilien, Argentinien, Dänemark, Spanien, Nordamerika, Italien, Peru, Portugal, Rußland, Schweden, Norwegen, Schweiz, Türkei, Venezuela, Serbien, Rumänien, England, Mexiko und Japan. Im Deutschen Reich besteht eine besondere technische Oberbehörde, die Kaiserliche Normaleichungskommission mit dem Sitz in Charlottenburg, die nicht nur für die dauernde Erhaltung der Ordnung in: Maß- und Gewichtswesen sorgt, sondern zugleich auch mit höchster Sorgfalt und Wissenschaftlichkeit selbst neue Forschungen aus dem Gebiet des Messens, Wägens und Eichens ausführt.
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Der fflieäergang cler alpinen Volkstrachten.
Von Ludwig von Hörmann.
/^leit einigen Jahren gibt sich in Süddeutschland (Oberbayern und Schwarzwald), sowie in den österreichischen Alpenländern ein lebhafter Eifer kund, dem offenbaren Niedergang der alten Volkstrachten eine Schranke zu setzen und womöglich deren Neubelebung zu versuchen. Diese Bestrebungen sind gewiß sehr anerkennenswert, dürften aber schwerlich von einem nachhaltigen Erfolg gekrönt sein, da das Schwinden der Volkstrachten unaufhaltbar und deren vollständiger Untergang trotz aller Gegenmaßregeln wenigstens für die Alpengegenden -— denn diese habe ich zunächst im Auge' — voraussichtlich innerhalb der nächsten fünfzig Jahre zu gewärtigen ist. Diese Überzeugung muß sich jedem aufdrängen, der die Trachten nicht bloß aus zeitweiligen kirchlichen und weltlichen Festen, arrangierten Massenprozessionen, großen Bauernhochzeiten, Schützenumzügen und Trachtenfesten kennt, sondern den Auflösungsprozeß seit einer Reihe von Jahren aufmerksam verfolgte und den Ursachen nachspürt, die ihn veranlagten und beschleunigen halfen. Der wird auch erkennen, daß dies Schwinden der Volkstracht nicht als vereinzelte Tatsache, sondern als Teilerscheinung eines allgemeinen Niedergangs des alpinen Volkslebens anzusehen sei und daß sich dieser Niedergang als naturgemäße Folge der vollständig geänderten wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse entwickelt habe, die die Neuzeit in den Alpenländern geschaffen hat. Es ist die unaufhaltsam fortschreitende Kultur, die, nachdem sie ihre einschneidende segensvolle und schädliche Tätigkeit in den Städten und Bezirken des Flachlands geltend gemacht und diesen ihren nivellierenden Stempel aufgedrückt hat, nunmehr auch die von ihr bisher nicht berührten Alpentäler in ihre Bannsphäre zieht.
Möglich gemacht wurde dieser Einfluß vor allem durch die Erweiterung und Vervollkommnung der Verkehrsmittel in Verbindung mit den andern Fortschritten auf mechanischtechnischem Gebiet. Die Eisenstränge, die jetzt fast alle Haupttäler der Alpen durchziehen, die neuen oder wenigstens verbesserten Straßen und Wege, die in die Nebentäler führen, ermöglichten dem Gebirgsbewohner immer häufiger den Besuch der nun leicht erreichbaren Städte und machten ihn mit den Erzeugnissen der Industrie bekannt.
Rasch fanden die Erzeugnisse der Spinnfabriken Eingang. Begünstigt und vermittelt durch die Märkte und durch die
Zwischenhändler, nahmen sie aus den Niederlagen der Haupt- täler den Weg in die Krämerladen der Nebentüler und vernichteten allmählich einen der wichtigsten Grundpfeiler des früheren patriarchalischen Bauernlebens, die Hausindustrie. Der alte, schöne Spruch:
„Selbstgesponnen, selbstgemacht,
Ist die schönste Banerntracht"
verlor nur zu bald seine Geltung und — mußte sie verlieren, denn die Fabrikstoffe waren viel gleichmäßiger und schöner gearbeitet, als es durch die unbeholfenen Maschinen des Hauses und durch die Handarbeit möglich war. Und was die Hauptsache für die Bauern war, sie kamen auch billiger zu stehen. Wolle, Hanf und Flachs wurden jetzt nicht mehr wie früher an den langen Winterabenden in der Stube verarbeitet, sondern verkauft, und mit dem Erlös wurden billige Fabrikwaren eingehandeÜ. Spinnrad und Webstuhl, Haspel und Wollkratzer, die ehrwürdigen Zeugen älplerischen Hausfleißes, wunderten in die Rumpelkammer; dafür hielten Kartenspiel und die Schnapsflasche immer häufiger ihren Einzug in die Gehöfte.
Weit mehr noch ins Gewicht fallend find die Nachteile, die dem Gebirgsvolk daraus in ökonomischer Hinsicht erwuchsen. Der Erlös des verkauften Rohmaterials deckte sich nur scheinbar mit den Auslagen für die vom Krämer oder aus der Stadt bezogenen Fabrikwaren. Freilich war der gekaufte Baumwollstoff dreimal so billig wie die selbstgewirkte Hausleinwand, aber er war auch dreimal so schlecht und mußte dreimal so schnell nachgeschafft werden, abgesehen vom dreifachen Näherlohn. Aber auch der moralische Gewinn der Freude am Kleid, das durch der eigenen Hände Fleiß geschaffen wurde, fiel weg. Weber, Schuster und Schneider, die sonst von Haus zu Haus auf die „Stör" gingen und die ganze Tracht von „Kopf bis zu Füßen" herstellten, haben fast nichts mehr zu tun, da man die gekauften Stoffe aus der Stadt bezieht und häufig auch die Kleider dort machen läßt. Infolgedessen fällt schon seit langer Zeit auch für die „Ehehalten" — die bäuerlichen Dienstboten — die früher einen Teil ihres Lohnes in Naturalien, das Leder für die Schuhe, die Leinwand zu Hemden, den Loden für die Joppe, erhielten, der Stoff für ihre Bekleidung fort, und sie sehen sich ge- zwungen, ihn ebenfalls vom Dorfkrümer, Hausierer und in ! der Stadt zu kaufen.