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Doktor Dhcrlos.
Novelle von A. Noöl.
war die genrütliche Stunde im Kaffeehaus, wo es nach der im Winter üblichen Sonntagsnachmittagsüberfüllung anfängt, leer zu werden ... Ganze Familien erhoben sich von ihren Sitzen, die Damen liehen sich von ihren Begleitern die Winterjacken und die Boas umgeben, während die Kellner und Piccolos mit den Überröcken der Herren herbeieilten. Denn es war Zeit, ins Theater zu gehen, und wer dieses oder ein ähnliches Winterabendvergnügen vorhatte, verlieh nun das Kaffeehaus, in dem die betäubenden Lärmwogen dahinebbten, während die vom Tabakrauch durchsetzte Luft sich mit den Strömen der kalten Auhenluft mischte, die jedesmal durch die Tür hereindrang, so oft jemand fortging.
Nun sah man wieder leere Tische, das eilige Hin- und Herschiehen der Marqueurs hörte auf, die Piccolos räumten die Platten mit den Wassergläsern ab und verstauten die umherliegenden Zeitschriften wieder in den Fächern der Wandgestelle.
Drauhen lag der düstere Winterabend, und ein scharfer Wind pfiff vorbei. Es war in den Strahen finsterer als sonst während der Woche, weil die Beleuchtung der Schaufenster fehlte, die heute hinter ihren Rolladen verschlossen ruhten. Nur wo an einem Fenster des Kaffeehauses der Vorhang nicht vorgezogen war, spiegelte sich der Kronleuchter in der großen Scheibe.
Ein noch junger, etwas schmächtiger Mann, dessen Gesicht das dichte, zerwühlte dunkelbraune Haar und der ebensolche gestutzte Vollbart im Verein mit dem Licht der Glühtulpen sehr bleich aussehen machten, blickte von seinem Fensterplatz aus zerstreut Zum Fenster hinaus auf die Straße.
Ihm gegenüber sah ein kräftig gebauter Mann gegen die Vierzig zu, mit breiten Schultern und wohlgenährtem Gesicht, dessen Stirn unter dem kurzgeschnittenen Haar sehr von der des Jüngeren abstach. Es war die niedere Skirn des Alltagsmenschen, wogegen die bleiche und hohe Stirn des andern mit den feingeäderten Linien höhere geistige Begabung anzeigte.
Der „Alltagsmensch" mußte vor nicht langer Zeit gekommen sein, denn er trank eben Kaffee, hatte dabei das „Hamburger Fremdenblatt" neben der Tasse liegen und warf flüchtige Blicke auf die Berichte von der Kaffeebörse, die er aufgeschlagen hatte. Doch Neues brachten ihm auch die nicht, und deshalb wäre er einem Plausch mit seinem Tischgenossen nicht abgeneigt gewesen. Verstohlen warf er einen prüfenden Blick auf ihn.
Was der Mensch immer für Gesichter schnitt! Man
sollte meinen, er habe nicht den Tag zu überleben, und
er war doch recht gut gestellt. Sohn des reichen, ge
wesenen Flanellfabrikanten Bernhard Bodenbauer, der seine Fabrik in Bchmen zur rechten Zeit verkauft und sich ins Privatleben zurückgezogen hatte, mit solchen Renten, daß sein jüngerer Sohn sich der uneinträglichen Philosophie und dem Dozententum widmen konnte, ohne Sorge für den Broterwerb.
Ja, wenn alles stimmte, was man sagte, so besah der
junge Doktor von seiner Mutter her ein Privatvermögen, das ihn sogar vom Vater unabhängig stellte. Der konnte lachen!
Er tat es aber nicht.
Wie der so in Beobachtung Versunkene jetzt hinüberblickte, begegnete er den schwermütigen Augen des jüngeren Mannes, deren dunkle Sterne auf der Hornhaut wie auf einem bläulichen See schwammen.
„Heute ohne Ihre Frau Gemahlin, Herr Kempen?" fragte der Philosoph.
„Leider. Meine Frau ist nach Brünn gefahren zu ihren Eltern. Die Schwiegermama ist krank. Fader Sonntag! . . . Ich Hab' einen tüchtigen Spaziergang gemacht . . . Nachher schau ich zu Haus nach meinen Kindern ..."
„Wie viele haben Sie?"
„Drei Stück -—wie die Löwen", antwortete Kempen selbstbewußt. „Ich sag' Ihnen, so eine Mattmosell ist nicht Zu
beneiden . . . Einen Skandal machen sie, meine Kinder! . . . Sie gedeihen, Gott sei Dank, prächtig. Die sollten Sie bei Tisch einhauen sehen, keins versagt's Futter . . . Und Sie, Herr Doktor, noch immer keine Miene, in den heiligen Ehestand zu treten? Wunder' mich, Sie sind doch ein Gemütsmensch?"
„Eben deshalb."
„Eben deshalb? Das versteh ich nicht."
„Haben Sie denn nie Angst um Ihre Kinder?" fragte der Doktor langsam und eindringlich. „Daß Ihnen eins genommen werden könnte?"
„Eins ist uns gestorben, wie's fünf Tag'alt war, an den Fraisen ... ein Bärenkind . . . das stärkste von allen . . . über vier Kilo hat's gewogen bei der Geburt. Na, eine Freude ist das nicht, wenn die arme Frau das alles mitgemacht hat für die Katz. Aber so was verschmerzt man doch leicht, es
kommt Ersatz, und ich sag Ihnen ja: meine Kinder sind keine Krippelg'spiele, die man mit tausend Ängsten aufzieht. Angst darf man überhaupt nicht haben, sonst ist's gefehlt. Weshalb soll denn immer was passieren?"
„Ist denn nicht das notwendige Ende jedes Verhältnisses eben das Ende?" fragte Bodenbauer. „Den glücklichsten Ehen steht es bevor, dem innigsten Familienanschluß. Ach nein, lieber kein angebetetes Weib haben, keine geliebten Kinder. Es ist rein ein Glück, daß die meisten Menschen nicht zu lieben verstehen, sie würden sonst nicht so viele Verluste verschmerzen. Eltern verlieren ihr einziges Kind -— und leben weiter, der Mann die Geliebte, die er vor kurzem erst heimgeführt hat -— und lebt weiter."
Kempen blickte etwas erstaunt zu dem Mann hinüber. Die Leute sagten, daß Bruno Bodenbauer sich über den Tod der Mutter nicht trösten könne. Es schien wirklich so zu sein.
„Wenn die Menschen ihre Verluste nicht verschmerzen könnten, wären sie nicht lebensfähig", meinte er achselzuckend. „Und keine Familie gründen, weil uns ein liebes Familienmitglied entrissen werden könnte, das heißt doch, das Kind mit dem Bad ausschütten. Ihr Herr Bruder denkt nicht so. Der hat eine reizende Frau . . . und auch Kinder?"
„Eins."
„Immer noch das einzige? Ein hübsches Buberl. Ich hab's einmal gesehen. Ein bissel zart, was?" .
„Ja", gestand der Doktor, während eine Wolke über seine Stirn flog.
„Sehen Sie, so einen könnten Sie auch haben."
„Wenn ich ein eigenes Kind hätte, es könnte mir kaum lieber sein als das meines Bruders."
Kempen lachte. „Da sind Sie schön gefoppt worden."
Bodenbauer verstand ihn gleich, sagte aber nichts, während sein Gegenüber in erheitertem Ton fortfuhr: „Nicht heiraten, um sein Herz an nichts zu hängen, und dann hängen Sie's an das Kind Ihres Bruders, von dem Sie doch in aller Ewigkeit nichts haben, denn es gehört Ihnen nicht zu eigen. Und darin liegt doch alles."
Bruno schwieg noch immer.
„Ja, ja, ich halte das für durchaus verkehrt", beharrte Kempen. „Eine traurige Philosophie, die ihre Sach' aus nichts stellt, damit sie nichts verlieren kann... Ich mein' eher, man soll sich so reich machen, daß man einen Verlust aushalten kann ... Es gibt Menschen genug, die allein leben können und dabei glücklich sind, nichts entbehren. . . Sie haben ihre Arbeit, ihre Selbstsucht, ihre Gemütstrockenheit, die nichts weiter verlangt. . . Aber wenn man geschaffen ist, um was gern zu haben, dann ist das lebenslange Entbehren und Sichsehnen doch das Ärgste. . . Verzeihen Sie, es ist eine Anmaßung von mir, dem Philosophen Philosophie predigen zu wollen, aber alle Schuster haben bekanntlich zerrissene Stie-fel, und den Philosophen bleibt vielleicht auch vor lauter offiziellem Verbrauch keine Philosophie fürs Haus