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erziehung untergebrachten jungen Menschen im Alter bis zu 21 Jahren deuten darauf hin, daß es vielleicht nicht weniger notwendig ist, für jene Gruppen ein richtiges Heim zu beschaffen, als für die weibliche Jugend.
Wer selbst in jungen Jahren draußen unter fremden Menschen gelebt hat, wird wissen, wie viel Unzuträglichkeiten, wie viel Mißstände an ein solches Leben geknüpft sind. Selbst jenem, der für sich allein in einem möblierten Zimmer wohnen kann, hängen sich allerlei Kleinigkeiten an. Binden sich an ein solches Leben viel Mißstände, so häufen sich die, sobald ein junger Mensch sich als Handwerker oder Fabrikarbeiter durchs Leben bringen muß. Er ist genötigt, oft mit mehreren Personen zusammen in einen: Raum zu wohnen, zu schlafen, Zu essen, zu lernen und seine Erholung zu suchen. Und es wird nicht immer der Fall sein, daß alle Bewohner eines Raumes die gleichen Neigungen haben. Wehe, wenn einer lernen oder lesen will, und die andern wollen gern bechern oder würfeln! So viel Gutes ein kameradschaftliches Leben junger Menschen hat und immer haben wird, ein stetes Leben in Gemeinschaft hindert viele individuelle, viele bessere Triebe, so recht ins Licht zu kommen und sich auszuwachsen.
Und viele dieser Dutzendschlafstellen sind so abscheulich, daß es unmöglich ist, dort Erholung zu finden! Da bleibt nun so einem Schlafburschen nichts anderes übrig, als sich in den Kneipen herumzudrücken. Wie diese Kneipen in den Arbeitervierteln meist aussehen, wissen wir alle. Das Schnapsbüfett ist das eleganteste und blinkendste. Und Karten, Trudelbecher und Billard sind auch stets zu haben.
Ist nun wirklich einmal das Schlafgemach erträglich, so ist der junge Arbeiter, der ja fast immer in der Fremde lebt, doch immer gezwungen, seine Mahlzeiten im Wirtshaus einzunehmen. Und das geht nie ohne Alkoholgenuß ab! Der junge Mensch wird von vornherein an eine gewisse Menge Alkohol gewöhnt, er muß sich daran gewöhnen, wenn auch sein Körper darunter leidet. Da und dort sind zwar Ansätze vorhanden, daß diese Erscheinung sich mildert. In den ja immer zahlreicher werdenden, selbst schon in größeren Mittelstädten auftauchenden vegetarischen Speisehäusern gibt es keinen Trinkzwang und auch fast nie alkoholhaltige Getränke. In den Privatmittagstischen wird ebenfalls Esten gereicht, ohne daß man zum Trinken genötigt wird. Ebenso in den Volksspeisehallen und Volksküchen.
Ist nun auch diese Bewegung für ein billiges, alkoholfreies Essen im Fluß: die kurze halbe oder Viertelstunde, die der Arbeiter in den einfachen Räumen der Volksküche verbringt, ist nur ein Bruchteil seiner freien Zeit. Und eine geistige Anregung, einen Wegweiser für die Mußestunden gibt die Volksküche auch nicht.
All diesen Mängeln gegenüber wäre es möglich, auf den Gedanken zu kommen, daß es früher eben doch besser gewesen sei, daß früher die jungen Leute inehr in: elterlichen Haus blieben. Perthes, der Gründer der „Herbergen zur Hemmt", der ja anfänglich nicht nur Herbergen für Wandergesellen, sondern auch für arbeitende Gesellen errichtet wissen wollte, berichtete schon 1855 aus Bonn, daß von den beinah einundeinhalbtausend Besuchern nur 14 aus Bonn waren, aber 947 aus der Rheinprovinz und 57 aus dem übrigen Deutschland. Solche Verhältnisse herrschten nicht nur am Rhein, sondern auch im übrigen Reich. Perthes bedauerte, daß denen nun die Aufsicht der Verwandren und Nachbarn fehlte. Unterwegs seien die jungen Leute frei, und zu ihrem eigenen Schaden frei.
Heute läßt es sich ja nicht mehr durchführen, die jungen Leute bis zu einem bestimmten Alter im Kreis der Familie zu halten. Und auch bei den Meistern lassen sich nicht mehr alle jungen Handwerker und Arbeiter unterbringen. Was sollte das wohl werden bei der Größe mancher Betriebe! Die großen Fabrikanlagen kämen ja zu sonderbaren Rechten und Pflichten.
Dabei ist die Idee, den nicht einheimischen und familienlosen Arbeitern ein erträgliches Heim zu schaffen, in kleinen Verhältnissen schon verwirklicht. Die Bestrebungen, der weib
lichen Jugend ein gefahrloses Unterkommen in den Mädchenheimen zu bieten, sind ja bekannt. In Berlin allein bestehen an zehn solcher Anstalten. Das größte Institut ist das Marienheim in der Borsigstraße 5. Es besitzt alle guten Einrichtungen in sanitärer wie praktischer Beziehung, hat eine Haushaltung- und eine Kochschule.
Ein Fehler aber haftet diesen Anstalten an: sie können sich nicht allein erhalten, sie bedürfen, um die Zinsen für aufgenommene Hypotheken zahlen zu können, gewisser Zuschüsse. Diese Zuschüsse werden durch Beitrüge der „Mitglieder", durch alljahr lich stattfindende Wohltätigkeitsveranstaltungen und durch die Überschüsse der mit den Mädchenheimen verbundenen Hospize herbeigeschafft.
Eine ähnliche Einrichtung ist die Stuttgarter Lehrlings Herberge. Sie verfügt über nahezu 100 Betten, die wöchent lich je 70 Pfennig bis 1 Mark kosten, und ist mit einer Speiseanstalt verbunden. Was die katholischen Gesellenvereine geschaffen haben, ist nach mancher Richtung vorbildlich. Ihr Gründer Kolping wollte erst den Gesellen Gelegenheit bieten, ihre Freistunden in sauberen Räumen zu verbringen. Aber bald kam er darauf, die Gesellen ganz und gar in Hut zu geben — nur die Arbeitzeit durfte das Mitglied des Gesellenverein o außerhalb des Gesellenheims verbringen. In allen größeren Städten, in denen eine katholische Bevölkerung lebt, haben wir heute Gesellenheime. Bon anderer Seite kann dieser Bewegung nichts Gleichwertiges entgegengestellt werden. Die evan- gelischen Jünglingsvereine beschränken sich meist darauf, ihren Mitgliedern Ünterhaltungs- und Erbauungsabende zu bieten, hie und da auch Fortbildungskurse.
Allerdings hat sich daneben das Herbergswesen ausgebildet. Und in ihm hat sich auch das Kostgängerwesen entwickelt. Doch beherbergten im Jahr 1900 von 450 Herbergen nur 312 solche Kostgänger. In bestimmte Formen wurde das Kost und Logierhauswesen von Herbergsvater Schaub in Mühlheim am Rhein gebracht. Er hatte besonders von den Durch- brennern viel zu leiden und suchte, um sich vor den immer größer werdenden Verlusten zu schlitzen, Verbindung mit andern, auch privaten Kost- und Logierhäusern. Da wurde ihn: an gegeben, daß im Jahr 1896 und 1897 von Durchbrennern folgende Verluste den Kostwirten zugesügt worden seien: Mühl heim am Rhein 36 000, Köln 160 000, drei Kölner Vororte 12000, Nippes 9000, Ehrenfeld 18 600, Esten an der Ruhr 80000 Mark.
Mögen diese Ziffern auch etwas willkürlich gewählt sein, sie decken doch eine Notlage der Kostwirte auf. Schaub brachte es fertig, die Fabrikanten zur Unterzeichnung eines Scheins zu zwingen, in dem sich die Fabrikanten für Sicherstellung des Kostgeldes verpflichteten. Auch die Arbeiter Unterzeichneten diesen Schein. Anfangs lehnten die großen Betriebe ein solches Vorgehen ab. Da wußte es Schaub durchzusetzen, daß allen Kostgängern von ihren Wirten sofort gekündigt wurde. Damit waren die Kostgänger genötigt, die Stadt zu verlassen — und die Betriebe konnten ihre Arbeit nicht sortsetzen. Erst als sie nun die Forderung der Kostwirte unterschrieben, traten die Arbeiter, die ihr altes Logis erhielten, wieder an.
Für diese Kostgänger der „Herbergen zur Heimat" wurde auch eine eigene Hausordnung aufgestellt. In ihr wird verlangt, daß der Kostgänger sich sittlich betrage, daß er an den Hausandachten teilnehme, daß er die Herberge sofort verlassen muß, wenn er die Hausordnung nicht beachtet, auch bekommt der Kostgänger einen Hausschlüssel nur in besonderen Fällen und darf sein Bett nur in der Nacht benützen. Kost- und Logisgeld ist wöchentlich zu zahlen, und angerichtete Beschädigungen sind zu vergüten.
Daß in einem großen Betrieb eine gewisse Ordnung herrschen muß, ist selbstverständlich. Doch dürften die Forderungen der Hausordnung schuld sein, daß nur wenige Herbergen mehr Kostgänger als etwa vier bis zehn haben. Was aber will das in Städten bedeuten, in denen Hunderte von jungen Arbeitern bei fremden Leuten wohnen?
1906. Nr. 46.
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