Heft 
(1881) 295
Seite
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Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 1850.

lich auch der Tonkunst einen längeren Abschnitt gewidmet. Schon die Ueber- schriftDas Sichvernehmenlasfen der Natur oder die Welt des Tones" zeigt an, welche unermeßliche Bedeutung er der rein elementaren Erscheinung und Wir­kung des Tones zuerkennt.Der Ton ist Lebenszeichen, darin ist alle seine Herr­lichkeit, alles Glück, das aus ihm strömt, begriffen. Darin kann nichts mit ihm sich messen im Himmel und auf Erden." Mit diesem Passus beginnt eine Beschreibung all' der Wonnen, welche drei Seiten lang (523 bis 525) an Ueberschwänglichkeit Alles hinter sich läßt, was die excentrisch­sten Romantiker, was selbst Wagner und seine Schule vorgebracht haben. Eine wissenschaftliche Begründung für ästhetische Lehren wird man freilich vergebens suchen in einem Satze wie:Der hörende Mensch wird ergriffen, er wird zum willenlosen Instrumente (!), auf welchen! die Töne ihr Spiel treiben (!!), er ist ihnen dahin­gegeben, weiß ihnen nicht zu widerstehen, er wird von ihnen, je nachdem sie sich gestalten, bald geäugstigt und erschreckt, bald aufgeregt und in Wnth (!!) gebracht, bald erweicht und gerührt, bald in süßes Schwelgen dahingeschmolzen (!!!), und sie regen nicht, wie die Wahrnehmungen des Auges, das selbstthätige Streben nach Unterscheidung und Klarheit an, auf wel­chem die Entwickelung der Intelligenz des Menschen beruht, sie stürmen in uns ein, ohne daß wir auch nur die Mühe der Oeffnung des Sinnorganes hätten wie beim Sehen, und sie fließen und taumeln an uns vorüber, ohne uns Stand zu halten und dadurch zu deutlicherem Auffaffen uns aufznfordern. Aber diese Passivität, wenn auch weniger intelligent und intelligent machend, ist schließlich doch ein Höheres" u. s. w.

In einem wissenschaftlichen Werke mag eine solche Darlegung befremdend erschei­nen ; sie erklärt uns aber die einige Jahre später von demselben Verfasser veröffent­lichte Schrift über Wagner'sRing der Nibelungen", in welcher auch eine Menge Dinge Vorkommen, welche mit dem Kunst­werke gar wenig Zusammenhängen wir werden noch davon sprechen. Köstlin wid­met demConsonantengeräusch" undVo- calklängen" eine besondere Besprechung. Da istzuerst das unvermengt entströ­

mende, volle, breite, offene, klare, kraft- reiche, mannhafte A;* sodann das engere, kraftärmere, bescheidenere, philiströse (!!), freundliche E". In den Diphthongen ist ihmdas kräftig heraustönende und ebenso exquisit fein zugefpitzte Ö, das noch feiner zngedüftelte (!!!), künstlich pretiöse (!!!), aber auch zart sentimentale Ü". ** Neben solchen Aeußerungen kann die nicht mehr verwunderlich erscheinen, daß der Com- ponistLicht nicht darstellen, sondern nur musikalisch malen könne". Möge jedoch Niemand durch die hier angeführten Sätze über Musik sich zu einem voreiligen Ur- theile über das ganze Werk Köstlin's verleiten lassen! Es ist voll bedeutender Anregungen, namentlich in den Abschnitten über.das ästhetische Leben. Hier begegnet man in jeder Zeile den geistreichsten und treffendsten Bemerkungen. Aber Jrrthü- mer und Sonderbarkeiten sind eben unver­meidlich, wenn man eine ganze Kunst aus dem Gemüth heraus deduciren und nicht die Entstehung der Form, nicht die Tüchtig­keit des Geistes, nicht die Vorstellung der Schönheit in der Tonkunst, nicht die Ge­setze dieser Kunst zuerst und dann die Wirkung auf das Gemüth genau prüfen will. Auch in der Musikästhetik be­währt sich das strenge Wort Goethe's: die Deutschen sollten dreißig Jahre lang das Wort Gemüth nicht aussprechen dür­fen, dann könnte nach und nach Gemüth sich wieder erzeugen.

DieAesthetik" von Moritz Carriere polemisirt zwar in vielen Punkten gegen Bischer, aber in Bezug auf Musik steht sie mit diesem und Köstlin auf dem Standpunkte des Gemüths; ja sie geht fast noch weiter, sie betrachtet die Musik als eine Art von Offenbarung und sagt nur mit anderen Worten von ihr, was Schopenhauer sagte:Sie erfaßt die Idee als das Princip des Werdens und enthüllt darum in der Zeitfolge der Entwickelung das eine sich entfaltende Seins sie offen­bart das Entwickelungsgesetz des Lebens, wie es alle Dinge beherrscht" da haben wir ja den Schopenhauer'schen

* Bekanntlich istA" das Erste, was Kinder aussprechen!

Welche künstlich pretiöse Sentimentalität des Ü in: Lüge, Grübeln, Bügel, Spülen, Küren, Üben, Brüllen, Kühe, Übung, Bürste, Schüren U. s. w. in inünitunr!