Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 1850. 119
werden dürfte. Wenn z. B. Marx sagt: „Der Mensch ist ein Schall- und Licht- l wesen, in den Licht- und Schallseiten der Welt findet er Verwandtes und Eigenes, Seiten seiner selbst", so kann man auch dasselbe bis zu einem gewissen Grade von manchen Thieren behaupten; das Pferd, das beim Klange der Trompete sein Ohr spitzt, bald auch die Bedeutung dieses oder jenes besonderen Rufes erkennt und im Circus nach dem Taete tanzt, konnte ebenso gut als Schallwesen bezeichnet werden. — Und was sollen wir davon sagen, wenn allerlei Heerden der verschiedensten Thierarten nach des Hirten Horn sich zum Ausmarsch aus dem Dorfe oder zur Rückkehr versammeln?
Was Marx von der höheren, nicht endlichen Liebe als der Schöpferin des Kunstwerks sagt, ist poetisch gedacht und schön ansgedrückt, hat aber mit der wissenschaftlichen Prüfung des Gegenstandes wenig zu thun. Ein Beispiel, wie wenig im Ganzen die ästhetischen Forschungen jener Zeit mit den gegebenen Faetoren rechneten, bieten die Betrachtungen über die Anziehung, welche der Stofs ans den Künstler ausübt, und die Idee, welche der Künstler an diesem Stoffe offenbart. Marx sagt wörtlich: „Ein Weib kann zunächst als gesunde Creatur erfreuen; so schaut Rubens meist die Frauen an und setzt unbedenklich sein tüchtig Weib als Himmelskönigin in die Wolken; gewiß hat er unbewußt aus der Wirklichkeit weggelassen, was jene Fleischesherrlichkeit beeinträchtigt hätte, und zngesügt an warmen Blutes Blüthe und niederländischer Selbstgewißheit, was etwa gefehlt. Welche Galerie ließe sich zwischen diese flandrische Madonna und jene , una aorta iäsaft die Rafael zu der Sistina mit den tiefen Geisterangen und dem mahnenden Blick des Christuskindes erhoben hat, ausführen! Welche Reihe von Menschenbildern füllt den Raum zwischen jenen Scalpen und Menschenhautbälgen, welche die Berliner Melpomene Charlotte Birch-Pfeiffer bei Anerbach und anderenorts zusammenbeutet, und jenen typischen Gestalten, in denen das Menfchenttzum all' seine Höhen und Tiefen, allen Fluch und Segen seines Daseins dem einzigen Shakespeare darbietet." Es bedarf wohl nicht einer
Kritik der sonderbaren Zusammenstellung: aus der einen Seite Rubens und Rafael, auf der anderen Charlotte Birch-Pfeiffer und Shakespeare; wir wollen nur auf einen wichtigen Punkt Hinweisen, den Marx ganz vergessen zu haben scheint, daß nämlich der Maler nur idealisiren kann, was er sieht, und daß er und der Dichter die Gestalten für ihre Bilder nicht aus der Luft holen, sondern aus der Welt, die sie umgiebt, daß jeder große Künstler nur der hervorragendste aus einer Gruppe mitberechtigter Zeitgenossen ist, und daß er die Ideen seiner Zeit höher trägt, läutert und veredelt — nicht etwa ganz neue schasst, deren Keim nicht schon in dem nationalen Boden gelegen hätte.* Die Kunstgeschichte mag vielleicht hier und da einen Künstler nennen, der dahin strebte, in seinen Werken einen vollständigen Gegensatz zur Geschmacksrichtung seiner Nation auszn- stellen — Berlioz hat das in Frankreich gethan —, aber solche Beispiele sind ganz vereinzelt, und die Wirkungen solchen Strebens waren nur sehr geringe; selbst der edle Berlioz, dem hohe Ideale vorschwebten, hat mit seinen Werken nur einen Erfolg des Interesses zu erreichen vermocht, weil er ganz außerhalb des nationalen Rahmens trat, weil er französisch sein nicht wollte, deutsch sein nicht konnte. Es mag auch daraus hingewiesen werden, zu welchen Widersprüchen selbst ein so gebildeter Geist und gründlicher Kenner der Musik wie Marx durch dies Streben, der Gefühlsästhetik neue Seiten abzugewinnen, verleitet werden kann. Er sagt in dem eben besprochenen Werke: die Alten im Orient und in Hellas hätten ihren Tonarten Charaktere und Wirkungen angedichtet, die unmöglich in ihnen, sondern nur in Anderem und in dem Geiste des Hörers vorhanden sein konnten. Nichtsdestoweniger hat er einige Jahre später in seiner Biographie Gluck's eine sehr bestimmte Charakteristik der jetzigen Tonarten ausgestellt, obwohl ans ein solches Unternehmen seine Bemerkung über die Alten vollständig Anwendung findet. Was Marx sonst noch über das Wesen der Musik sagt, bekundet überall
* Ich verweise auf Taine's „INNIosoxlüs äs i'urtch wo das alles vortrefflich dargelegt ist.