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Jtlustrirte' Deutsche Monatshefte.
den feinen Geist und Schriftsteller, bietet aber nirgends einen festen Standpunkt für weiteres selbständiges Forschen. Die alte Hypothese von Schmerz- und Freudelauten als ersten Anlässen der Musik wird wiederholt, dann die Entstehung der Instrumentalmusik aus dem Gesänge dargelegt; ob der Mensch zuerst gesungen und die Töne, welche seine Kehle erzeugte, aus irgend welchem Instrumente nachgeahmt hat, oder ob das fast unwillkürliche Blasen in ein Schilfrohr oder in ein hohles Horn die ersten Töne vor das Ohr des Menschen brachte und ihn zum Nachsingen der Töne angeregt hat; solche Fragen werden immer unbeantwortet bleiben, sind auch für die Aesthetik vollkommen gleichgültig. Eins steht fest: das Kind, welches Töne noch nicht gehört hat, singt nicht und wenn es auch die schönste Stimme hat, sowie der Taube nicht spricht, obwohl seine Zunge vollkommen richtig organisirt ist. Hieraus ließen sich Schlüsse ziehen für die Entstehung des Gesanges und der Musik — aber, wie gesagt, sie sind für die Kunst gleichgültig.
Bon den neueren Aesthetiken der Tonkunst, das heißt denen, die sich mit ihr allein beschäftigen, haben wir die von I)r. Heinr. Adolf Köstlin* hervorzuheben, welche, auf dem Boden der neueren Forschungen von Hanslick und Helmholtz fußend, ein anschauliches Bild der verschiedenartigen Gattungen bietet und auch in klarem Stil geschrieben ist. Naumamüs „Tonkunst in der Cnlturgeschichte", von der bisher der erste Band in zwei Hälften erschienen ist, bietet vieles Anregende und zeugt von gründlichen Studien, schweift aber zu sehr vom Hauptgegenstande in die entferntesten Gebiete und ist auch schwerfällig geschrieben. Sehr interessant ist eine Studie von IM. Ottokar Hostinsky: „Das Musikalisch-Schöne und das Gesammtkunstwerk vom Standpunkte der formalen Aesthetik", ein Versuch, Wagner's Werke und Theorien mit der Herbart-Zimmermann'schen Schule zu versöhnen, geistreich geschrieben, aber nicht überzeugend. Dagegen bietet die Broschüre von Professor Karl Köstlin
^ Nicht zu verwechseln mit Professor Karl Köstlin, dem Mitarbeiter Vischer's, von dem bereits gesprochen worden ist.
über den „Ring der Nibelungen",* worin die künstlerische Nothwendigkeit dieses Ton- dramas dargelegt werden soll, die seltsamsten Dinge; man vergißt manchmal ganz, daß es sich uni ein Kunstwerk handelt, und glaubt irgend eine staats- socialistische Schrift zu lesen. Professor Köstlin legt die Grundlage des Bayreuther Festspieles folgendermaßen dar: „Die bisherige Entwickelung der Weltgeschichte hat sich noch nicht (seit 6000 Jahren, nach kürzester Zeitrechnung!) in Harmonie zu setzen vermocht mit der menschlichen Natur (also liegt die menschliche Natur außerhalb der Weltgeschichte, diese ist vou anderen Wesen als den Menschen entwickelt worden!); sie (die Entwickelung!) hat bis jetzt nur darauf hingearbeitet, eine äußerliche Ordnung der menschlichen Dinge zu schaffen, eine Ordnung, welche immerhin dem allgemeinen Wohle dienen will, diesen Zweck aber nur erreicht durch ein System gewaltsam-künstlicher Beschränkungen der freien Natur des Menschen, durch eine gewaltsam-künstliche Organisation des Ge- sammtlebens, welche Größe, sei nun, wie sie wolle, Staat, Kirche oder sonst etwas, der menschlichen Natur vielmehr feindlich als freundlich entgegentritt und das menschliche Leben in ganz andere Bahnen leitet, als diejenigen sind, welche ihm die Natur- eigentlich angewiesen hat. Wie sollte es eigentlich sein? (Die Worte sind in der Broschüre mit gesperrter Schrift gedruckt!) Der Mensch sollte sich auf Erden frei regen und bewegen können, er sollte ungehindert anstreben und erreichen können, was ihm äußeres und insbesondere was ihm inneres Bedürfniß ist, wozu Neigung der Natur ihn treibt, was er von Natur ersehnt und liebt u. s. w."
! Dann heißt es: „Wir sehen auch nicht rein menschliche Interessen vor allen anderen ! gepflegt und gehegt, sondern alle die gemachten und künstlichen Interessen der Cnltur; um diese Dinge, als da sind gegenseitiges Sichübertrefsen in Besitz, Macht, Herrschaft, Gewalt, Ehre, um diese Dinge, welche die Natur nicht kannte, drehen sich die Begierden und Leidenschaften, streiten
* Der Titel der Schrift ist: „Richard Wagner's Tondrama: Der Ring der Nibelungen, seine Idee, Handlung und musikalische Komposition, dargcstellt von Karl Köstlin, Professor der Aesthetik an der Universität Tübingen."