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Ehrlich: Die mn>lkansch-ästhetische Literatur seit 1850.
sich die Stände und Parteien, bekriegen sich die Völker, obwohl aus diesen Dingen keine Freude, kein Wohlsein, keine Glückseligkeit entspringen kann." Was dies alles mit dem Kunstwerk zu schassen hat, mag dem eigenen Ermessen des Lesers anheim- gestcllt bleiben.
Unsere Studie ist der Prüfung musik- ästhetischer Lehrsätze und Anschauungen gewidmet; sie darf sich also nur mit dem Theile des großartigen Werkes von Helmholtz: „Die Lehre von den Ton- empfindungeu" beschäftigen, welcher zu solchen Lehrsätzen und Anschauungen in irgendwelcher Beziehung steht. Die geistvolle Darlegung der geschichtlichen Entwickelung der homophonen, polyphonen und der harmonischen Musik, wie jede dieser Stilgattungen ans der Wechselwirkung der Zeitideen und-Bedürfnisse und der künstlerischen Dichtigkeiten hervorgegangen ist, bietet einen reichen Schatz fruchtbarster Anregungen; die Betrachtungen über den Gesang in der griechischen Tragödie können nicht genug der Beherzigung empfohlen werden; sie beweisen am besten, wie der in neuester Zeit so sehr emsig betriebenen Forschung nach altgriechischer Musik eine sehr achtbare archäologische Bedeutung, aber niemals eine ästhetische zuerkannt werden muß, eine solche, welche ans die künstlerischen Bestrebungen und ans das künstlerische Urtheil unserer Zeit Einfluß üben könne? Ebenso bedeutend ist der Abschnitt über „die unbewußte Gesetzmäßigkeit der Kunstwerke"; der große Gelehrte weist nach, wie die Schönheit an Gesetze und Regeln gebunden sei, die von der menschlichen Natur abhängen, die aber nicht vom bewußten Verstände gegeben und auch weder dem schaffend- thätigen Künstler noch dem Passiv empfangend-genießenden Beschauer oder Hörer bewußt sind. „Und doch," sagt er weiter, „verlangen wir von jedem Kunstwerke Vernunftmäßigkeit, indem wir uns den Genuß und das Interesse durch Aufspürung der Zweckmäßigkeit des Zusammenhangs und Gleichgewichts aller
* Was Helmholtz über die Entstehung der verschiedenen Baustile sagt, möge der Leser mit der Ansicht Taine's in dessen „IMilosopIäs äs I'art" (S. 116 sf.) vergleichen, die in außerordentlich interessanter Weise einen anderen Weg der Entwickelung darlegt.
seiner einzelnen Theile zu erhöhen suchen. Wir betrachten es als Hauptkennzeichen eines großen Kunstwerkes, daß wir durch eingehendere Betrachtung immer mehr und mehr Vernunftmäßigkeit im Einzelnen finden, je öfter wir es an uns vorübergehen lassen und je mehr wir darüber Nachdenken." Nach einer Reihe von ganz vortrefflichen Betrachtungen über die Grundlagen aller höheren Kunstan- schanung und der damit verbundenen „moralischen Erhebung und der gefühlsseliger Befriedigung" wird die „wesentliche Bedingung hervorgehoben", daß der ganze Umfang der Gesetzmäßigkeit und Zweckmäßigkeit eines Kunstwerkes nicht durch bewußtes Verständniß gefaßt werden könne. „Eben durch den Theil seiner Vernunftmäßigkeit, welcher nicht Gegenstand bewußten Verständnisses wird, behält das Kunstwerk für uns das Erhebende und Befriedigende, von ihm hängen die höchsten Wirkungen künstlerischer Schönheit ab, nicht von dem Theile, den wir vollständig analysiren können." In diesen Betrachtungen liegt ein höchst werthvoller Beitrag für jede künftige Musikästhetik. Nur gegenüber einem einzigen, aber wichtigen Satze erlauben wir uns eine Bemerkung. Helmholtz sagt, daß das bewußte Verständniß der Vernunftmäßigkeit in einem Kunstwerke weder für die Erfindung noch für das Gefühl des Schönen nöthig ist, „denn in dem unmittelbaren Urtheil des künstlerisch gebildeten Geschmacks wird ohne alle kritische Ueber- legung das ästhetisch Schöne als solches anerkannt, es wird ausgesagt, daß es gefalle oder nicht gefalle, ohne es mit einem Gesetze oder Begriffe zu vergleichen." Daß für die „Erfindung", das heißt für den schassenden Künstler, das „bewußte Verständniß" nicht nöthig ist, steht fest; ja man könnte behaupten, es wäre eher ein Hinderniß; denn je mehr er den Gesetzen folgen will, um so weniger kann er unbeirrt schassen. Anders aber verhält es sich mit dem Urtheil. Der „künstlerisch gebildete Geschmack", auf den Helmholtz hinweist, ist ja ein Product natürlichen Schönheitssinnes und der Bildung, das heißt des Bewußtseins der Gesetze, das zu gleicher Zeit erfaßt und auffaßt. Das Helmholtz'sche Werk wird für Jeden, der nicht den einseitigen doctri-