Heft 
(1881) 295
Seite
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Ehrlich: Die mn>lkansch-ästhetische Literatur seit 1850.

sich die Stände und Parteien, bekriegen sich die Völker, obwohl aus diesen Dingen keine Freude, kein Wohlsein, keine Glück­seligkeit entspringen kann." Was dies alles mit dem Kunstwerk zu schassen hat, mag dem eigenen Ermessen des Lesers anheim- gestcllt bleiben.

Unsere Studie ist der Prüfung musik- ästhetischer Lehrsätze und Anschauungen gewidmet; sie darf sich also nur mit dem Theile des großartigen Werkes von Helmholtz:Die Lehre von den Ton- empfindungeu" beschäftigen, welcher zu solchen Lehrsätzen und Anschauungen in irgendwelcher Beziehung steht. Die geist­volle Darlegung der geschichtlichen Ent­wickelung der homophonen, polyphonen und der harmonischen Musik, wie jede dieser Stilgattungen ans der Wechselwirkung der Zeitideen und-Bedürfnisse und der künstleri­schen Dichtigkeiten hervorgegangen ist, bietet einen reichen Schatz fruchtbarster Anregun­gen; die Betrachtungen über den Gesang in der griechischen Tragödie können nicht genug der Beherzigung empfohlen werden; sie beweisen am besten, wie der in neuester Zeit so sehr emsig betriebenen Forschung nach altgriechischer Musik eine sehr acht­bare archäologische Bedeutung, aber nie­mals eine ästhetische zuerkannt werden muß, eine solche, welche ans die künst­lerischen Bestrebungen und ans das künst­lerische Urtheil unserer Zeit Einfluß üben könne? Ebenso bedeutend ist der Ab­schnitt überdie unbewußte Gesetzmäßig­keit der Kunstwerke"; der große Ge­lehrte weist nach, wie die Schönheit an Gesetze und Regeln gebunden sei, die von der menschlichen Natur abhängen, die aber nicht vom bewußten Verstände ge­geben und auch weder dem schaffend- thätigen Künstler noch dem Passiv empfan­gend-genießenden Beschauer oder Hörer bewußt sind.Und doch," sagt er wei­ter,verlangen wir von jedem Kunst­werke Vernunftmäßigkeit, indem wir uns den Genuß und das Interesse durch Aufspürung der Zweckmäßigkeit des Zu­sammenhangs und Gleichgewichts aller

* Was Helmholtz über die Entstehung der ver­schiedenen Baustile sagt, möge der Leser mit der Ansicht Taine's in dessenIMilosopIäs äs I'art" (S. 116 sf.) vergleichen, die in außerordentlich in­teressanter Weise einen anderen Weg der Entwicke­lung darlegt.

seiner einzelnen Theile zu erhöhen suchen. Wir betrachten es als Hauptkennzeichen eines großen Kunstwerkes, daß wir durch eingehendere Betrachtung immer mehr und mehr Vernunftmäßigkeit im Einzel­nen finden, je öfter wir es an uns vor­übergehen lassen und je mehr wir da­rüber Nachdenken." Nach einer Reihe von ganz vortrefflichen Betrachtungen über die Grundlagen aller höheren Kunstan- schanung und der damit verbundenenmo­ralischen Erhebung und der gefühlsseliger Befriedigung" wird diewesentliche Be­dingung hervorgehoben", daß der ganze Umfang der Gesetzmäßigkeit und Zweck­mäßigkeit eines Kunstwerkes nicht durch bewußtes Verständniß gefaßt werden könne. Eben durch den Theil seiner Vernunft­mäßigkeit, welcher nicht Gegenstand be­wußten Verständnisses wird, behält das Kunstwerk für uns das Erhebende und Befriedigende, von ihm hängen die höch­sten Wirkungen künstlerischer Schönheit ab, nicht von dem Theile, den wir voll­ständig analysiren können." In diesen Betrachtungen liegt ein höchst werthvoller Beitrag für jede künftige Musikästhetik. Nur gegenüber einem einzigen, aber wich­tigen Satze erlauben wir uns eine Be­merkung. Helmholtz sagt, daß das be­wußte Verständniß der Vernunftmäßigkeit in einem Kunstwerke weder für die Er­findung noch für das Gefühl des Schönen nöthig ist,denn in dem unmittelbaren Urtheil des künstlerisch gebildeten Ge­schmacks wird ohne alle kritische Ueber- legung das ästhetisch Schöne als solches anerkannt, es wird ausgesagt, daß es ge­falle oder nicht gefalle, ohne es mit einem Gesetze oder Begriffe zu vergleichen." Daß für dieErfindung", das heißt für den schassenden Künstler, dasbe­wußte Verständniß" nicht nöthig ist, steht fest; ja man könnte behaupten, es wäre eher ein Hinderniß; denn je mehr er den Gesetzen folgen will, um so weniger kann er unbeirrt schassen. Anders aber verhält es sich mit dem Urtheil. Der künstlerisch gebildete Geschmack", auf den Helmholtz hinweist, ist ja ein Product natürlichen Schönheitssinnes und der Bildung, das heißt des Bewußtseins der Gesetze, das zu gleicher Zeit erfaßt und auffaßt. Das Helmholtz'sche Werk wird für Jeden, der nicht den einseitigen doctri-