Heft 
(1881) 295
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Illustrirtc Deut

nären Standpunkt einnimmt und Alles, was nicht direct in seinen Systemrahmen paßt, geringschätzig betrachtet, eine reiche Fundgrube von Belehrung und Anregung sein. Daß es jedoch trotz aller gro­ßen Vorzüge einen dauernden Einfluß auf die allgemeinen ästhetischen Anschau­ungen ausüben wird, niuß bezweifelt werden. Die Gefühlstheorie hat in neue­ster Zeit in Norddeutschland wieder weites Feld gewonnen und ist in ein Bnndniß niit der Theologie getreten. Viele An­zeichen deuten dahin, daß in Bälde nicht der religiöse Glaube an eine unvergäng­liche, unnennbare höchste Macht, sondern und in höherem Grade der kirchliche Formenglaube in die Frage von der Auffassung und dem Verständniß großer kirchlicher Tonwerke mit hineingezogen werden wird. Die Wissenschaft und die Kunst werden dann einen neuen Kanon erhalten, nach diesem wird nicht das Kunst­werk als solches beurtheilt, sondern zuerst die ihm zu Grunde liegende Gesinnung, für welche selbstverständlich auch die ge­hörigen Vorschriften gegeben werden; folgerichtig muß dann auch das Recht der Beurtheilung solchen Vorbedingungen unterworfen werden. Wir wollen jedoch mit Bestimmtheit hoffen, daß der wahre Glaube gegenüber der Heuchelei und die Wissenschaft gegenüber dem Schönredner­thum ihr Recht vertheidigen werde.

Indem wir zur Prüfung der Biogra­phien übergehen, müssen wir zunächst er­klären, daß unsere Studie nur denjeni­gen genauere Betrachtung widmen kann, ' welche auf streng wissenschaftlicher Grund­lage beruhen. Ich bin weit davon ent­fernt, das Verdienst der Werke leugnen oder nur schmälern zu wollen, welche das Leben und die Schöpfungen großer Com- ponisten der Kenntniß und dem Verständ­niß des Publikums näher zu bringen suchen. Aber dem Zwecke der vorliegen­den Studie entspricht nur die Prüfung solcher Biographien, in denen gründliche Analyse und Vergleichung mit gleich­zeitigen anderen Schöpfungen, also die genaue Darlegung des ganzen künst­elnd bildungsgeschichtlichen Entwickelungs­ganges einer gewissen Periode, eine

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wissenschaftlich geordnete Hinführnng auf ästhetische Urtheile bekunden. Im Hin­blick ans diesen Zweck muß sich der Ver­fasser auch versagen, manche vortreffliche, ernsthaft geschriebene, aber rem biogra­phische Werke wie die von Weber* (C. M. v. Weber), Thayer (Beethoven) und Anderen, ans die er noch zurückkommen wird, so genau zu besprechen, als sie es, von jedem anderen Standpunkte betrachtet, in hohem Grade verdienen, Er bedauert dies um so mehr, als nach seiner Ueber-, zeugung schlichte, wahrheitsgetreue Dar­stellung des Lebens eines großen Künstlers viel mehr zu gesunder Kunstanschauung beiträgt als hochtrabende Urtheile und Aburtheilungen und schönrednerische ästhe­tische Beschreibungen, Analysen und Er­klärungen in wissenschaftlichen Werken. Da jedoch einerseits schöne Redensarten vielfach Gefallen finden und am meisten, wenn sie von gelehrten Männern ans­gehen, so ist ihnen besondere Aufmerksam­keit znzuwenden.

Um die von Mnsikgelehrten, besonders die von Chrysander und Spitta verfaßten Biographien gerecht und mit Ruhe benr- theilen zu können, muß man vor Allem die genaue Grenze ziehen zwischen musik- geschichtlichen Forschungen und allgemein­ästhetischen Urtheilen. Die ersteren ver­langen ein sehr fleißiges, langwieriges und sehr gründliches Studium, einen Aufwand von Zeit und Mühe wie fast kein anderes Kunststudium; sie bedingen ausgebreitete theoretische Kenntnisse, die Gabe, die richtigen Quellen zu entdecken und zu benutzen, und einen gewissen an­geborenen bibliographischen Jnstinct. Sie sind also eine höchst verdienstliche Arbeit und haben volles Anrecht auf Anerkennung und Dank der Musiker und Musikfreunde. Aber zu richtigen ästhetischen Urtheilen ge­hört vor Allem vielseitig gebildeter Ge- schmackund Unbefangenheit. Diese ist eigent­lich gar nicht zu verlangen von einem Bio­graphen, der Jahrzehnte Mühe und Fleiß verwendet, um das Wirken und die hohe Bedeutung eines Meisters nach allen Seiten hin zu erforschen und darznstellen,

* Der vortreffliche Verfasser der Biographie feines herrlichen Vaters, des echt deutschen Operncomponisten, hat in der Vorrede selbst erklärt, daß er eine andere Form biographischer Darstellung gewählt hat als die von Jahn, Pertz und Anderen gepflegte.