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Illustrirtc Deut
nären Standpunkt einnimmt und Alles, was nicht direct in seinen Systemrahmen paßt, geringschätzig betrachtet, eine reiche Fundgrube von Belehrung und Anregung sein. Daß es jedoch trotz aller großen Vorzüge einen dauernden Einfluß auf die allgemeinen ästhetischen Anschauungen ausüben wird, niuß bezweifelt werden. Die Gefühlstheorie hat in neuester Zeit in Norddeutschland wieder weites Feld gewonnen und ist in ein Bnndniß niit der Theologie getreten. Viele Anzeichen deuten dahin, daß in Bälde nicht der religiöse Glaube an eine unvergängliche, unnennbare höchste Macht, sondern und in höherem Grade der kirchliche Formenglaube in die Frage von der Auffassung und dem Verständniß großer kirchlicher Tonwerke mit hineingezogen werden wird. Die Wissenschaft und die Kunst werden dann einen neuen Kanon erhalten, nach diesem wird nicht das Kunstwerk als solches beurtheilt, sondern zuerst die ihm zu Grunde liegende Gesinnung, für welche selbstverständlich auch die gehörigen Vorschriften gegeben werden; folgerichtig muß dann auch das Recht der Beurtheilung solchen Vorbedingungen unterworfen werden. Wir wollen jedoch mit Bestimmtheit hoffen, daß der wahre Glaube gegenüber der Heuchelei und die Wissenschaft gegenüber dem Schönrednerthum ihr Recht vertheidigen werde.
Indem wir zur Prüfung der Biographien übergehen, müssen wir zunächst erklären, daß unsere Studie nur denjenigen genauere Betrachtung widmen kann, ' welche auf streng wissenschaftlicher Grundlage beruhen. Ich bin weit davon entfernt, das Verdienst der Werke leugnen oder nur schmälern zu wollen, welche das Leben und die Schöpfungen großer Com- ponisten der Kenntniß und dem Verständniß des Publikums näher zu bringen suchen. Aber dem Zwecke der vorliegenden Studie entspricht nur die Prüfung solcher Biographien, in denen gründliche Analyse und Vergleichung mit gleichzeitigen anderen Schöpfungen, also die genaue Darlegung des ganzen künstelnd bildungsgeschichtlichen Entwickelungsganges einer gewissen Periode, eine
che Monatshefte.
wissenschaftlich geordnete Hinführnng auf ästhetische Urtheile bekunden. Im Hinblick ans diesen Zweck muß sich der Verfasser auch versagen, manche vortreffliche, ernsthaft geschriebene, aber rem biographische Werke wie die von Weber* (C. M. v. Weber), Thayer (Beethoven) und Anderen, ans die er noch zurückkommen wird, so genau zu besprechen, als sie es, von jedem anderen Standpunkte betrachtet, in hohem Grade verdienen, Er bedauert dies um so mehr, als nach seiner Ueber-, zeugung schlichte, wahrheitsgetreue Darstellung des Lebens eines großen Künstlers viel mehr zu gesunder Kunstanschauung beiträgt als hochtrabende Urtheile und Aburtheilungen und schönrednerische ästhetische Beschreibungen, Analysen und Erklärungen in wissenschaftlichen Werken. Da jedoch einerseits schöne Redensarten vielfach Gefallen finden und am meisten, wenn sie von gelehrten Männern ansgehen, so ist ihnen besondere Aufmerksamkeit znzuwenden.
Um die von Mnsikgelehrten, besonders die von Chrysander und Spitta verfaßten Biographien gerecht und mit Ruhe benr- theilen zu können, muß man vor Allem die genaue Grenze ziehen zwischen musik- geschichtlichen Forschungen und allgemeinästhetischen Urtheilen. Die ersteren verlangen ein sehr fleißiges, langwieriges und sehr gründliches Studium, einen Aufwand von Zeit und Mühe wie fast kein anderes Kunststudium; sie bedingen ausgebreitete theoretische Kenntnisse, die Gabe, die richtigen Quellen zu entdecken und zu benutzen, und einen gewissen angeborenen bibliographischen Jnstinct. Sie sind also eine höchst verdienstliche Arbeit und haben volles Anrecht auf Anerkennung und Dank der Musiker und Musikfreunde. Aber zu richtigen ästhetischen Urtheilen gehört vor Allem vielseitig gebildeter Ge- schmackund Unbefangenheit. Diese ist eigentlich gar nicht zu verlangen von einem Biographen, der Jahrzehnte Mühe und Fleiß verwendet, um das Wirken und die hohe Bedeutung eines Meisters nach allen Seiten hin zu erforschen und darznstellen,
* Der vortreffliche Verfasser der Biographie feines herrlichen Vaters, des echt deutschen Operncomponisten, hat in der Vorrede selbst erklärt, daß er eine andere Form biographischer Darstellung gewählt hat als die von Jahn, Pertz und Anderen gepflegte.