Heft 
(1881) 295
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Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 1850.

der bestrebt sein muß, diesen Emen zu verherrlichen, und daher unwillkürlich andere Gleichberechtigte, wenn auch nicht verkleinern, doch weniger beachten oder preisen wird. Unbefangenheit ist bei einer derartigen Arbeit nicht unbedingt uöthig; diese kann sogar mit einer gewissen Ein­seitigkeit betrieben, um recht einheitlich gestaltet zu werden. Daher ist auch bei dem Biographen im Allgemeinen der ge­bildete Geschmack nicht strenge zu ver­langen, von welchem Lessing sagt:Der wahre Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten aller Art verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen vder Entzücken erwartet, als sie gewähren kann." Solche Betrachtungen bewahr­heiten sich am stärksten in den Musiker­biographien, weil hier, wie schon ange­deutet, die Forschungen und das Studium entschieden noch schmieriger sind als in anderen Künsten. Der Verfasser einer Dichterbiographie muß weitgetriebene Ein­seitigkeit vermeiden und das Urtheil des gebildeten Publikums mit in Betracht ziehen; aber die Zahl der eompetenten Beurtheiler von Musikerbiographien ist eine verhältnißmäßig sehr geringe; die wissenschaftlich geschriebenen Werke der Gattung gewinnen nur sehr langsam einen größeren Leserkreis; den Verfassern ist also weitester Spielraum geboten für ihre rein persönlichen Ansichten und Urtheile.

Unter den zuletzt bezeichneten Werken stehen die von Winterfeld (I. Gabrieli und sein Zeitalter), Jahn (Mozart), Chrysander (Händel), Spitta (Bach) obenan? Diese Gelehrten haben in musikgeschichtlicher Forschung und Darstellung Hochbedeuten­des, zu Dank Verpflichtendes geleistet, und neben ihnen kann meiner Ueber- zeugung nach Marx (Biographie Gluck's und Beethoven's) erst in zweiter Reihe genannt werden. Bezüglich der ästhetischen Urtheile läßt sich die cultnrhistorisch be­zeichnende Thatsache feststellen, daß Winter­feld und Jahn einen viel freieren Blick und viel mehr Milde gegenüber Ansichten, die nicht die ihren sind, bekunden als Chrysander und Spitta. Diese Erscheinung ist durch die Stellung der genannten Au­toren außerhalb des engeren Musikgelehr­

* Die Namen sind nach dem Erscheinen der Werke geordnet.

tenkreises zu erklären. Winterfeld war hoher Regierungsbeamter, Jahn Professor der Philologie in Bonn und Leipzig. Sie befanden sich also in immerwährendem geistigen und gesellschaftlichen Verkehr mit den verschiedenartigsten Kreisen und waren daher zu einer gewissen Duldsamkeit für andere Meinungen angewiesen. Chrysander und Spitta* haben Beide gründliche Uni­versitätsstudien betrieben, ihre Thätig- keit jedoch aus die Musikforschungen zu­sammengefaßt und anderen Bedingungen des Weltbestehens wenig Aufmerksamkeit gewidmet.

Das Werk von WinterfeldI. Gabrieli und sein Zeitalter" ist schon durch die Wahl des Stoffes nur einem kleineren Kreise zugänglich, aber ein wahrer Schatz von ebenso vortrefflichem musikgeschicht­lichen Material als belehrenden und an­regenden Betrachtungen; die Capitel von dem Verhältnis; Gabrielas zu Orlando di Lasso und Palestrina, dann die Betrach­tung über die neue Richtung in der Musik jener Zeit, die Darstellungen der Ent­stehung und Entwickelung der Oper sind Muster der Forschung und ästhetischen Anschauung.

In größerem Maßstabe angelegt und den Antheil auch des größeren Publi­kums anregend ist Jahn's Mozart- Biographie. Das Werk ist jetzt sehr- weit verbreitet und hat in gelehrten und gebildeten Kreisen die allgemeine An­erkennung gefunden; es bedarf also hier keiner besonderen weiteren Besprechung. Wenn ich erwähne, daß Jahn einmal bei der Besprechung einer Arie der Donna Annain der Begleitung des Orchesters die Weiblichkeit" der Heldin gezeichnet sieht, so geschieht das gewiß nicht in irgendwelcher Tadelsabsicht, sondern nur um darzuthnn, zu welch eigenthümlichen Aussprüchen selbst ein so klarer, der Schönrednerei durchaus nicht zuneigender Geist wie Jahn verleitet wird, wenn er sich bemüht, specielle Wirkungen durch allgemeine Begriffe zu erklären. Denn wie die Merkmale der Weiblichkeit in der

* Professor Spitta war eine Zeit lang Gym­nasiallehrer in einem kleinen Städtchen. Nach den: Erscheinen des ersten Bandes seiner Bach-Biographie wurde er nach Berlin berufen als zweiter Secretär der Akademie, Senator, Professor der Musikgeschichte an der Universität und Professor an der Hochschule.