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Jllnstrirte Deutsche Monatshefte.
Orchesterbegleitung einer Arie zu finden sind, das läßt sich eben nur auf eine rein persönliche Empfindung zurückführen. Und ich glaube nicht zu irren mit der Behauptung, daß gar viele der wärmsten Verehrer Mozart's* aus der Orchesterbegleitung der Gesänge der Donna Anna nichts aus den Charakter der Heldin Bezügliches heraushören werden, vielmehr eine dem göttlichen Genie verliehene symbolischcharakteristische Wiedergabe der Affecte, der Gemüthsbewegungen.
Die Chrysander'sche Biographie Händel's verlangt eine besonders eingehende Prüfung, weil ihr Verfasser eine Ausnahmestellung einnimmt, wie sie bisher vielleicht keinem Gelehrten auf anderem Gebiete eingeräumt worden ist. Diese Stellung ist auch kennzeichnend für manche literarischen Verhältnisse in Deutschland. Es genügt, daß ein Schriftsteller sich mit einem gewissen Nimbus der Moralität umgebe, auf daß er sich erlauben könne, Alles, was ihm nicht paßt, in wenig würdiger Weise anzugreifen. Und Keiner hat diesen Mißbrauch weiter getrieben als Chrysander, der nicht bloß über Musikgelehrte und Schriftsteller, sondern über die berühmtesten Historiker, Philologen und Naturforscher die absprechendsten Ur- theile veröffentlichte, während er selbst in allen ästhetischen und culturhistorischen Dingen die unglaublichsten Blößen giebt. Dem Leser, dem der Ausspruch zu strenge oder vielleicht gar ungerecht dünkt, führen wir wörtlich einige Sätze vor, denen Chrysander selbst — dies beweisen die Ausdrücke — besonderes Gewicht beilegt, und sehen getrost der Entscheidung über unsere Meinungsäußerung entgegen.
Gleich ans Seite 12 des ersten Bandes findet sich eine Deduction, die in ihrer Art ein Unicnm genannt werden kann: „Daß Georg Friedrich (Händel) auch seines alten Vaters, nicht bloß der Mutter Liebling gewesen, setzen die Erzählungen unbestimmt voraus. Den sicheren Beweis lieferte mir eine Thatsache, die mich höchlich überraschte: den noch lebenden
* Zu diesen Verehrern Mozart's darf sich auch der Verfasser rechnen. Ihn bringt der erste Act des „Don Jüan", vom Quintett angesangen bis zum Schluß, besonders aber das Maskentrio, in eine Stimmung, welche jedes Prüfen von sich abweist. Ebenso die Gesänge Sarastro's.
Herrn Otto Händel, Bnchdruckereibesitzer zu Halle, fand ich auf den ersten, Blick dem großen Manne ähnlicher als viele Kupferstiche. Was sich so lange, und zwar bei einer Nebenlinie, die sich schon um 1620 abzweigte, gleichmäßig erhielt, ist gewiß als das echt Händel'sche Familiengesicht anzusehen. So ist kein Zweifel: Beide, Vater und Mutter, fanden sich in ihm wieder." Also: Weil Herr Otto Händel dem großen Händel ähnlicher sieht als viele Kupferstiche, ist der große Händel der Liebling auch seines Vaters gewesen; denn wenn Einer der Liebling seiner Eltern war, so kommt nach hnndert- fünfzig Jahren in einen: ganz entfernteil Nebenzweige ein Gesicht vor, das jenen: ganz ähnlich sieht.
Seite 443 im ersten Bande enthält folgende Darstellung der Entstehung, Verwendung und Verflachung eines Hcindel- schen Choralgesanges: „Niemand wird den Gesang ohne die tiefste Erschütterung anhören, und Keiner dürfte Händel dafür loben wollen, daß er ihn in , Esther' zu den Worten, in welchen Hamann um Erbarmen winselt, wieder benutzt. Verflacht ist er jedenfalls, aber nicht aus Nachlässigkeit, sondern mit ganz bewußter Absicht. Was mag Händel dazu bewogen haben? Die Frage hängt mit der weiteren zusammen: Warum hat Händel keine weitere Passion componirt?"
Nachdem nun Chrysander bemerkt, daß Händel's Passion trotz ihrer Unvollkommenheit „deutsche Frömmigkeit mit dem feinen italienischen Geschmack und mit der englischen Charakterstärke und klaren Gegenständlichkeit zu vereinen wußte", daß wir hier „den Fortgang von Händel's Passion zu Bach und später von Bach's Passion zu Händel's Oratorien" sehen, gelangt er zu dem Schluffe, daß Händel, der „nichts durch den Verstand und Alles durch Ideen lernte", die opernhaften biblischen Dichtungen seiner Zeit verließ, den „geistlichen Sensualismus überwindend", zum einfachen biblischen Worte zurückkehrte. „Seit 1740 war er über jede musikalische Passion hinweg." Also das ist die Antwort auf die Frage, „was Händel bewogen habe", die wunderbare Arie aus der Passion mit „ganz bewußter Absicht" zu verflachen! Der Leser, der vielleicht glaubt, ich habe