Heft 
(1881) 295
Seite
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Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 1850.

irgend einen wichtigen Zwischensatz ans dieser Beweisführung ausgelassen, möge sreundlichst sich die Mühe nehmen und Seite 443 bis 448 des ersten Bandes durchlesen, um die Ueberzeugung zu ge­winnen, daß ich vollkommen genau dar­stelle.

Seite 483 spricht Chrysander von Gluck, Shakespeare und Goethe im Vergleich zu Händel in folgenden Worten:Händel's Werke zeigen historischen Geist in moderner Färbung, während Gluck's französische Opern modernen Geist in sorgsames histo­risches Colorit hüllen (!!). Diese Ent­fernung von den Tonkünstlern bringt ihn um ebenso viel den germanischen Dichtern Shakespeare und Goethe näher re. Nur in der unbefangenen, man möchte sagen harmlosen Doppelstellung zudem elastischen und dem biblischen Alterthnm scheint mir Händel auch gegen diese, besonders gegen Goethe, denjenigen Vorzug zu besitzen, der bei der schiefen Stellung, in welche die Religion in den letzten Jahrhunderten zu mehreren dem Musiker weniger nutz­baren, aber dem Dichter unentbehrlichen Bildungselementen gerathen ist, aller­dings nur einem Musiker zu erreichen war." UeberHerakles" von Händel schrieb Chrysander gelegentlich einer Auf­führung in Berlin:Von der Gesammt- schilderung des Herakles darf man be­haupten, daß selbst von der altgriechischen Kunst kein Werk erhalten ist, welches den nationalen Helden in einer so erhabenen Treue darstellt."

Der Mann, der in seinem Fache, d. h. in der Mnsikforschung, solche Urtheile niederschreiben konnte, durfte nichtsdesto­weniger ohne Widerspruch der Gelehrten über Andere in der absprechendsten Weise aburtheilen. Er schulmeistert die Musik- gelehrten Winterfeld und Kiesewetter in entschiedenster Weise. Er citirt Hawkins und Mattheson lobend, wo sie Händel preisen, meint sogar einmal, Mattheson habeunübertrefflich" über Händel's Orgelspiel gesprochen; sobald sie aber etwas Unrichtiges, Nachtheiliges oder Falsches über den großen Tonsetzer schreiben, werden sie in den Staub ge­treten; Hawkins ist dann einThatsachen- krämer",unglaubwürdig",leichtsinnig" ; Mattheson ein Mensch vonschäbiger Ge­sinnung", und Seite 104, 3. Band wird

er um eines allerdings niedrigen Spottes willen innerhalb nenn Zeilen als ein Mensch vonhündischer Vorstellung", niedriger Gesinnung" undschimpflicher Mnsikantenbeschränktheit" geschildert.

Aber nicht genug, daß Chrysander über die Gelehrten seines Faches so spricht. Er greift die ganze englische Geschichtschrei­bung an und sagt im 2. Bande, S. 14, nachdem er behauptet,die Tonkunst sei durch Jahrzehnte Grundkraft",Träger ge­schichtlicher Entwickelung" gewesen:Man vermißt in den betreffenden Geschichts­büchern selbst die leiseste Hindeutung daraus", obwohldie Tonkunst am mäch­tigsten auf die Zeit einwirkte", und wei­ter:Wer an der Hand der Tonkunst diese Zeit durchwandert, der erkennt sie nicht wieder in dem Bilde, das in den Geschichtsbüchern steht." Weder Lord Ma- hon noch diePrnnkreden Thackeray's", noch diefarbenreichen Charakterbilder Maeanlay's" sind geeignet, jene versöh­nende Wahrheit hervortreten zu lassen, die jene Zeit in ihrer engeren Tiefe birgt und ohne deren Darlegung die Geschicht­schreibung ihr Amt nur sehr unge­nügend verwaltet." (Ich citire nur wörtlich!)

In neuester Zeit hat Chrysander das abfälligste Urtheil über Jahn als Philo­logen gefällt und das folgende Urtheil über Helmholtz drucken lassen:Helmholtz hat in verschiedenen Gebieten, die in kei­nem genetischen Zusammenhänge stehen, im mechanischen und organischen, philo­sophischen und ästhetischen Nützliches ge­leistet und zugleich Confusion angerichtet.

-Das ist Polywissenschast, und diese

Universalität ist von einer Höhe, die nicht entfernt an die der anderen Gelehrten (Darwin und Robert Mayer) hinanreicht. Ihren Gipfel hat sie aber mit einem an­ziehenden Schimmer umgeben, der Vieles ahnen aber nicht erkennen läßt und der bei näherem Hinzutreten völlig in Dunst sich auflöst."*

Ich frage nun, in welchem Fache als der Musik durfte ein Gelehrter wagen, derartige Urtheile über die bedeutendsten Männer anderer ihm ferner liegender

* Der Artikel war gar nicht unterzeichnet, da er jedoch über zwei Spalten einnimmt und daher vom Redacteur gelesen, gekannt und gebilligt sein mußte, so trijst diesen die alleinige Verantwortlichkeit.