126 Jllustrirte Deuts
Wissenschaften zu fällen, ohne daß ihm von allen Seiten die gebührende Zurechtweisung ward? Der Leser vergleiche doch einmal diese Chrysander'sche Arbeit mit Thibaut's „Reinheit der Tonkunst", um gleich einen rechten Begriff zu erhalten, wie ein wenn auch einseitiger, aber edler und wahrhaft frommer Gelehrter schreibt. Er schimpft nicht, er thut auch nicht verzückt, er bringt keine schöngeistigen Phrasen. Aber seine Worte sind erwärmend, sein Gefühl für Schönes ist immer lebendig. Seine Ansichten sind ja bekanntlich einseitig, und doch ist sein Buch das herrliche Geschenk eines edlen Geistes, der stärkste Gegensatz zu Chrysander. Spitta's Bach-Biographie steht in Bezug auf Haltung und Stil über dem Chrysander'scheu Werke. Zwar enthält auch sie, besonders im ersten Theile, manche unhaltbare Behauptungen und Sätze, die in einem so ernsten und gründlichen Buche niemals Platz finden sollten;* aber im Ganzen herrscht doch ein würdigerer Ton darin, und die Arbeit selbst giebt Zeugniß von großem Fleiß. Es ist sehr zu wünschen, daß Prof. Spitta, den ein günstiges Geschick auf kürzester Laufbahn zu einflußreicher Stellung geführt hat, diese benutze, um das wissenschaftliche Studium der Kunst zu befördern, dem schöngeistigen und schönredenden Dilettantismus entgegenzuarbeiten, und ihm nicht Vorschub leiste durch Sätze wie die unten angeführten, oder durch Vorlesungen vom „bluttriefenden Quintsextaccorde" im Fidelio! Wer von Bach sagt, er wollte in einer Fuge ein Bild menschlichen Jammers entwerfen, der kann die Richtigkeit aller Auslegungen jedes einzelnen Wagnermotives nicht bestreiten. Vom ästhetisch-wissenschaftlichen Stand-
* „Wir sollen nicht auf die Höhen der Kunst geführt und dort allein gelassen, sondern auch wieder zu den Menschen zurückgeführt werden. Da die höchsten Formen der Jnstrumentalkunst zugleich einen hohen Grad der Jsolirtheit beanspruchen, so spricht sich darin ein gesundes, nicht ganz unberechtigtes Gemeingefühl (!!) aus."
„Bei Bach finden sich Betonungen, welche blitzartig den Begriff bis in die Tiefen des Ge- müthslebens beleuchten." Von der H-naoll-Fuge des ersten Bandes des „wohltemporirten Claviers": Sie trage „schmerzverzerrte Züge" und Bach „wollte darin ein Bild menschlichen Jammers entwerfen". Zu dem Worte „Nacht" (in einer Motette) „nehmen die Geigen eine brütend drohende Accordlage an".
chc Monatshefte.
punkte ermangeln beide Auslegungen — die der Fuge wie die der Motive — eines haltbaren Grundes; von der Gefühlstheorie ausgehend, läßt sich Alles behaupten,* denn viele gefühlvolle und gebildete Leute werden eben von einer Art Musik in höherem Grade zu Vorstellungen angeregt als von einer anderen. Die wissenschaftliche Be- urtheilung des Kunstwerkes hat mit diesen Vorstellungen von Nebenempfindungen nichts anzufangen; und der Professor an einer großen Universität und an einer vom Staate errichteten Musikschule müßte jede Concession an Unwissenschaftliches vermeiden.
Die von A. B. Marx geschriebenen Biographien: Gluck und Beethoven, haben nach Anlage und Ausführung den Zweck, das gebildete Publikum für den Meister zu interessiren; dies beweist schon die Erklärung der einfachsten technischen Fachausdrücke (Polyphonie, Contrapunkt und dergl.), deren Bedeutung heutzutage selbst der gut unterrichtete Dilettant ziemlich genau kennt. Auch sind meiner Ansicht nach die Analysen der einzelnen Werke nicht gründlich genug für eine wissenschaftliche Darlegung; sie sind, sehr oft nur andeuteud oder mit poetischer Erklärung geschmückt, wie sie der gebildete Nichtkenner am liebsten liest. Diese etwas flüchtige Art der Behandlung tritt besonders bei den Besprechungen der letzten Kompositionen Beethoven's hervor, denen ein mnsikgelehrter und geistreicher Mann wie Marx, der Schöpfer einer neuen Compositionslehre, eine viel eingehendere und ernstere Prüfung widmen mußte. Nicht die Anführung der einzelnen Motive genügte hier, vielmehr mußte gezeigt werden, wie Beethoven mitten im wirrsten Knäuel seltsamer harmonischer Wendungen doch einen Grundgedanken sest- hält; es mußte dargelegt werden, wie die Dissonanzen und Disharmonien in jenen Werken fast immer durch die poly-
* „Etwas der Keckheit des vernichtenden Humors Aehnliches, gleichsam einen Ausdruck der Weltverachtung, kann man bei mancher Musik, z. B. der Hapdn'schen, welche ganze Tonreihen durch eine fremde vernichtet und zwischen pp und tk, presto und ^näants fortstürmt." Das behauptete und erklärte Jean Paul, dem wir den herrlichsten, poetischsten Ausspruch über Musik verdanken. Freilich hat er auch die Maultrommel als ein ganz besonders schönes Instrument verherrlicht!