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Illustrirtc Deutsche Monatshefte.
Wieder fälteln und glätten, daß man die Vorstellung von einer Sackgasse empfand, aus der es keinen anderen Ausweg als einen gewaltsamen gab. Wilbrandt hatte offenbar nicht mehr so fleißig Modell studirt wie früher und seine Phantasie auf ein bestimmtes Thema zu einseitig con- centrirt, das in verschiedener Einkleidung so oft austrat, bis es ermüdete. Hierzu kam, daß er allniälig infolge von Mißhelligkeiten, die sich an den Austritt seiner Gattin aus dem Verbände des Bnrg- theaters knüpften, und auf Grund des Fiascos, das eins seiner Stücke, das den Ofenheim'schenScandalproceß behandelnde Lustspiel „Die Wege des Glücks", erlebte, in Wien den Boden unter den Füßen verlor und damit sich einer wesentlichen Stütze seines literarischen Schaffens beraubt sah. Wir erinnern unter den mit Erfolg gegebenen und im Druck vorliegenden Lustspiele an folgende: „Ein Kamps ums Dasein", „Durch die Zeitung", „Die Wege des Glücks", „DieReise nach Riva", „Der Thurm in der Stadtmauer", und von den noch nngedrnckten an „Frieden im Krieg", „Die Wahrheit lügt", „Von Angesicht zu Angesicht", „Natalie", „Ans den Brettern", „Die Tochter des Herrn Fabricius".
Der Mangel an Frische und Lebendigkeit, die Sucht, sich in das Einzelne mit peinlicher Absichtlichkeit hineinzubohren, blickte namentlich aus „Natalie" und „Auf den Brettern" hervor, und die Erfahrungen, die das Berliner Publikum bei ihrer Aufführung im Residenztheater machte, zeigten deutlich, daß der Dichter die rechte Fühlung mit seinen Zuschauern verloren hatte. In jenem Stücke war ein Borwurf, der an Lindan's „Johannistrieb" erinnerte, durch einen unaufhörlich thäti- gen Apparat von Seelenfolterungen um die rechte Wirkung gebracht; in diesem ließ das Gekünstelte des Sujets, eine Schilderung der Coulissenwelt vor den Coulissen, das Verständniß der großen Menge nur schwer aufkommen. Daß aber Wilbrandt den richtigen Weg nach solchen Versuchen, Seitenpfade von mehr als zweifelhafter Berechtigung einzuschlagen, wiedergefunden hat, beweist sein neuestes Stück, „Die Tochter des Herrn Fabrieins", in dem er eine ergreifende Herzensgeschichte, diejenige einer armen Buchhalterin in
einer Fabrik, in die Formen des Theaters bringt und durch die echte und gesunde Rührung, die er damit erzeugte, wiederum einen Beweis für seine hohe dichterische Befähigung ablegte. Seine jüngste noch nirgends zur Ausführung gelangte Tragödie „Robert Kerr" spielt in London zur Zeit König Jacob's I. und schildert die romantische Liebe des Grafen Somerset zur Lady Francis, deren Ehe mit dem Grafen Essex durch den König gelöst wird, den Tod eines Gegners dieser Verbindung, des Sir Thomas Overbnry, den das mächtige Günstlingspaar herbeiführt, und den endlichen Untergang desselben, nachdem das Verbrechen an den Tag gekommen ist. Die Charakteristik der Hauptfiguren zeichnet sich durch Schärfe und Klarheit aus, und die psychologische Entwickelung, daß das zur Beseitigung des Gegners gemischte Gift in den Herzen derer frißt, die es bereitet haben, bis es sogar die gegenseitige Liebe aufhebt, ist bei der Lectüre ebenso fein, wie sie bei der Bühnenanfführnng wirkungsvoll sein muß.*
Wenn es an sich ein Jrrthnm ist und zur Ungerechtigkeit führen muß, einen Bühnenschriftsteller nach dem einzelnen, mehr oder weniger glücklichen Wurfe zu benrtheilen, so verdoppeln sich dieser Jrrthnm und diese Ungerechtigkeit bei einer Natur wie Wilbrandt. Die raschen Wechselfälle, in denen sich das Theaterleben gefällt, nw ein Tag immer den anderen verschlingt, werden bei ihm durch einen höchst verfeinerten Organismus, durch eine große Leichtigkeit der Production und eine erstaunliche Geschmeidigkeit der Anempfindung zu außerordentlichen Ueberraschnn- gen gesteigert. Wenn Wilbrandt das letzte Wort gesagt zu haben scheint, steht er noch immer am Ende des Anfangs, so reich ist die Quelle, aus der er schöpft; und wer ihn abschließend charakterisiren wollte, würde vielleicht schon durch die Erfahrungen des folgenden Tages eines Besseren belehrt werden können. Ueberall strömen dem Dichter Gedanken und Einfälle zu, und es ist vielleicht nur ein Mangel an kritischem Vermögen, der ihn zu ge-
* Alle diese dramatischen und novellistischen Arbeiten Wilbrandt's sind in dem so rührigen und um unsere moderne Thenterlitcratur so verdienten Verlage von L. Rosner in Wien erschienen.