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selbst bei ausgeführter kunstvoller Musik die Wirkung derselben auf den Laien vorwiegend eine solche elementare sein wird; nur daß die größeren Tonreihen und schöneren Tonformen schon durch die bloße geordnete Ansammlung der elementar erregten Stimmungen eine nicht immer größere, aber stets edlere und reinere Wirkung ausüben. Für den Mnsikver- ständigen und theilweise auch für den Laien kommt dann die geistige Freude an der Touanschauung als solcher noch hinzu; die inneren musikalischen Beziehungen der Composition, ihre melodischen und harmonischen Schönheiten und Eigen- thümlichkeiteu, mit einem Worte: der musikalisch-geistige Gehalt gewährt ihm einen freien und lichtvollen Genuß an der reinen Anschauung der Töne. Allein jene rein elementare Wirkung der Musik ist gewiß auch bei Fachmännern immer noch sehr bedeutend, und diese geistige und künstlerische bei den allermeisten Laien gewiß nur sehr gering. Sollte die Anschauung des Schönen in den Tonverhältnissen die wesentliche Wirkung der Musik ansmachen, so würden Laien, bei ihrem durchaus mangelhaften Einblick in dieselbe, niemals eine so deutliche und entschiedene Wirkung an sich erfahren können. Wenn nur derjenige, welcher die eben unvergeßliche, bestimmte Anschauung dieses Tonstückes mit sich nimmt, es gehört und genossen hätte: wie Viele von einem ganzen Concertpublikum hätten es dann gehört?"
Diese letzte Bemerkung ist ganz richtig; aber wenn wir bei einem Quartett von Beethoven oder bei einer Messe von Bach der elementarer: Wirkung der Musik einen so großen Antheil an dem Ge- sammteindruck zuerkenuen müssen, wenn eben die Stimmungen, wie sie durch nervöse Erregung entstehen, welche wieder allerlei Vorstellungen hervorruft, das Hauptmoment dieses Eindruckes bilden, nicht die geistige Freude an der Anschauung — wie steht es da mit der ethischen Bedeutung? und wie steht es da mit dem Urtheil über das Urtheil eines Publikums solchen Kunstwerken gegenüber? Hat der Unbefangene nicht das Recht, zu behaupten, daß der Enthusiasmus der Mehrzahl mehr ein zur Schau getragener als ein wahrhafter sei
che Monatshefte.
und daß die Musik sehr vielen Menschen so theuer sei, weil sie rasch über das bewußte Denken zur unbewußten, unklaren Gefühlsschwelgerei führt? Darf ich nicht behaupten,, daß mit dem Ueber- handnehmeu der Vorliebe für Musik die tragische Dichtkunst, diese eigentlich höchste Kunst, immer mehr in den Hintergrund tritt, daß der Antheil des Menschen an der dichterischen Darstellung des Schicksals sich immer mehr vermindert und daß weniger der geistige Genuß als die Erregung angestrebt wird? Darf ich nicht den Wunsch äußern, daß ein so vortrefflicher und wahrhaft humaner Gelehrter in seiner milden Weise jedes Zugeständnis; an die sogenannten populären Gesühls- theorien verweigere, durch welche die wissenschaftliche Kunstauschauung in hohem Grade erschwert wird?
Das immer mehr sich verbreitende und verstärkende Interesse an der Musik hat nothwendigerweise auch der Geschichtsforschung bedeutende Anregungen gegeben. Es darf daher nicht verwunderlich erscheinen, wenn seit 1850, in einem Zeiträume von dreißig Jahren, fast mehr Musikgeschichten veröffentlicht worden sind als in den vorhergehenden zwei Jahrhunderten. Auch entspricht es dem ganzen Entwickelungsgange der Musikästhetik, wenn die neuere Musikgeschichte erst streng fachwiffenschaftlich, dann kulturhistorisch und endlich „populär-ästhetisch" behandelt wurde. So lauge das Interesse an der Tonkunst noch kein so ganz allgemeines war, konnte die Geschichtschreibung nur auf die Aufmerksamkeit eines kleinen Kreises rechnen, fand nur bei einigen Fachgelehrten und Kunstfreunden und in den Bibliotheken Aufnahme, durfte auch nur streng wissenschaftlich gehalten werden. Als aber größere Kreise begannen, sich mit Musikgeschichte zu beschäftigen, da konnte eine solche, die weniger die Anforderungen des Fachmannes und mehr das Verständniß der gebildeten Laien beachtete, auf günstige Aufnahme und Verbreitung zählen. Freilich können alle die Musikgeschichten, welche sich zu eingehend mit der Musik der vorchristlichen Zeit beschäftigen, nur eine sehr geringe Theilnahme beanspruchen, weil selbst das archäologische Verdienst der Forschungen als ein sehr bedingtes erscheint. Denn jede andere