Heft 
(1881) 296
Seite
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Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 1850.

Kunstgeschichte stützt ihre Darstellungen und Urtheile auf vorhandenes Material, noch existiren Bauwerke und Schöpfungen der bildenden Kunst der alten Völker; von dem, was diese thatsüchlich sind, schließt der Geschichtschreiber auf das geistige Leben ihrer Zeit und ans den Einfluß, den sie aus die spätere Entwickelung ge­übt haben mögen. Aber in der Musik fehlt eine solche Grundlage; wir besitzen keine Tonwerke der Aegypter und der Inden, bei denen ja die Musik mehr als jede andere Kunst gepflegt wurde. Und Alles, was von der griechischen Musik gesagt wurde und wird, beruht doch nur auf Voraussetzungen; selbst wenn diese sich als richtig erwiesen, wäre das Resultat ohne die geringste Rückwirkung ans unsere Musik. Man kann im grie­chischen, gothischen oder Renaissancestile bauen, Versuche einer prä-rafaelischen Malerei sind von bedeutenden Meistern ausgegangen, aber eine Musik, die in ver­flossene Jahrhunderte znrückgriffe, wäre ein Unding, und für die vorchristlichen Zeiten fehlt jeder Anhaltspunkt.* Aus diesem Grunde werden die ersten Bände der Musikgeschichte des vortrefflichen A. W. Ambros nur ein in Bezug auf den außer­ordentlichen Fleiß hochgeachtetes Werk sein, aber ohne besondere Bedeutung für die Kunst bleiben. Wäre der edle Mann nicht so unerwartet der Kunst entrissen worden, als er kaum an den Punkt ge­langt war, wo seine Geschichte das künst­lerische Interesse anregte; hätte er er­lebt, das Werk zu vollenden und eine neue Ausgabe zu überwachen, so würde er in diese manchen historisch-archäologisch schätzenswerthen, aber der Musikgeschichte gleichgültigen Abschnitt der ersten gewiß nicht mehr ausgenommen haben. Sein Tod war ein großer, fast unersetzlicher Verlust für die Musikwissenschaft; durch sein reiches und umfassendes Wissen, durch seinen unermüdlichen Fleiß, durch Gründ­lichkeit und durch einen besonders fein ge­bildeten Geschmack erschien er vor Allem

* Westphal's und Gevaert's Untersuchungen über die antike Musik und Rhythmik sind in ihrer Art Werke von höchstem Werthe, aber der Schwerpunkt ihrer Bedeutung liegt mehr auf Seite der wissen­schaftlichen Forschung als eines künstlerischen Im­pulses. wie er z. B. von Winckelmann'sGeschichte der Kunst im Alterthum" ausgegangen ist.

berufen, eine Geschichte der Tonkunst zu schreiben, welche bei wissenschaftlicher Be­handlung doch auch weitere Kreise inter- essiren konnte. Allerdings gefiel er sich zu sehr in weiten Abschweifungen ans cultnrhistorische und philosophische Gebiete, aber man merkt es jedem neuen Bande an, daß er immer knappere Form an­strebte. Leider kam er nur bis zu Palestrina. Ehre seinem Andenken!

Franz Brendel'sGeschichte der Musik in Italien, Frankreich und Deutschland", die nun bereits in sieben Auflagen Ver­breitung gesunden hat, mag als das populärste" Werk der Gattung bezeichnet werden. Ihr Verfasser verstand es, das allgemeine Interesse von vornherein zu erwecken, indem er Untersuchungen über die alte vorchristliche Musik ganz bei Seite ließ, gleich bei den bekannten musikalischen Bestrebungen von Ambrosius und Gregor dem Großen begann, in leben­diger Darstellung die Entwickelung bis zum siebzehnten Jahrhundert behandelte und dann der Geschichte der neuen Zeit bis auf die letzten Phasen Wagner, Liszt, Berlioz ganz besondere Beachtung widmete. Er nimmt entschiedenste Partei für die neue Richtung, erblickt in ihren Schöpfungen den Höhepunkt der Kunst und in ihren Principien die Grundlage neuer Fortbildung. Trotz dieses einseitigen Standpunktes besitzt das Werk manche Vorzüge und ist gut geschrieben.

In gleicher Richtung wie Brendel be­wegt sich W. Langhaus in seinerMusik­geschichte in zwölf Vorträgen". Nur hat er dem Alterthum ein Capitel gewidmet und auch einigen Zwischenperioden mehr Aufmerksamkeit zugewendet als Brendel. Auch sein Buch erfreut sich guter Auf­nahme. Reißmann'sGeschichte der Musik" greift in die ältesten Zeiten zurück und geht bis in die neueste; sie sieht in Schumann den Abschluß der Knnstperiode und bekämpft Wagner in heftiger Weise. Dommer's vortrefflichesHandbuch der Musikgeschichte" endet mit Beethoven's Tode und vermeidet jede Berührung mit den neuen Richtungen, gegenüber welchen das Behaupten eines ganz neutralen Standpunktes sehr schwer ist.

Heinrich Adolf Köstlin, von dessen ver­dienstlicherAesthetik der Tonkunst" ich bereits gesprochen, versucht in seiner Musik-