Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische
dieser Studie dargelegt, wie im Anfänge dieses Jahrhunderts der Schwerpunkt der musikalischen Kritik nach und nach von den Fachblättern in die Tagesblätter, in das „Feuilleton" überging. Hier ist nur mehr noch der jetzige Thatbestand der Verhältnisse und dessen Einwirkung auf das Ur- theil im Allgemeinen und auf die ästhetischen Anschaltungen zu schildern. Die Musik ist heute die weitverbreitetste, die meist gepflegte Kunst. Dem großen Publikum bietet sie die leichtest zugängliche Zerstreuung in elegantester Form, für die gebildete Gesellschaft ist sie ein wirksames Bindemittel; die hohen Kreise lassen sie gern als das bedeutendste sittliche Bildungsmoment gelten, weil sie die politisch ungefährlichste Kunst ist. Zu gleicher Zeit aber findet auch der Mann exacter Wissenschaft, der Physik, der Akustik, in der Musik vielfachen Stoff zu schwierigen und interessanten Untersuchnilgen. Der Physiologe prüft die Ursachen der elementaren Wirkungen des Tons, die Umwandlung der Empfindung der Schallwellen im Ohre zu Tonvorstellungen, die dabei entfaltete Thätigkeit der verschiedenen Nerven. Der Culturhistoriker vergleicht die oben angedeutete Stellung der Tonkunst im öffentlichen Leben mit der Stellung und dem Einflüsse anderer Künste; aus den verschiedenen Wechselwirkungen des politischen und socialen Lebens erklärt er die Entwickelung der Künste und die besondere Bedeutung der einen oder anderen Kunst für gewisse Perioden. Der Aesthetiker sucht den Zusammenhang der Tonkunst mit der Idee der Schönheit darzustellen; er geht hierbei von einein durch den reinen Denkproceß erlangten und im Voraus festgestellten Grundsätze aus und erklärt die bestehenden Kunstwerke und deren Gesetze von jenem voraus festgestellten Grundsätze; oder er prüft zuerst die Kunstwerke, geht der Entwickelung der Kunst nach und erklärt aus dem Vorhandenen und ans der Entwickelung die Gesetze der Tonkunst und deren Wechselwirkung zwischen ihnen und der Idee des Schönen. Der Kritiker endlich soll die Aufgabe vollführen, über alle Erscheinungen in der Musikwelt nach seinen künstlerischen und ästhetischenKenntnissen zuurtheilen, um seine Urtheile dem Publikum in faßlicher und zierlicher Sprache zu übermitteln.
Literatur seit 1850. 213
Nun haben das große Publikum und die gebildete Gesellschaft bei den großen Anforderungen, welche einestheils der Beruf, anderentheils die vielen gesellschaftlichen Gewohnheiten und Verpflichtungen mit sich bringen, nur in seltensten Fällen die Zeit, ernsten ausführlichen, im fach- wissenschaftlichen Stile gehaltenen Benr- theilungen von Kunstwerken und Kunst- leistnngen die Aufmerksamkeit und das Studium zu widmen, bei welchem das Selbstnachdenken und Erkennen eine Hanpt- bedingung ist. Ja selbst die Männer der Wissenschaft sind oft abgehalten, den Tages- erscheinnngen im Kunstleben mehr als kurze Betrachtung zu schenkenstund erhalten meistens erst aus den Zeitungen Kenntniß von solchen Erscheinungen.
Bei der übergroßen Anzahl von musikalischen Leistungen aller Art, welche in den großen Residenzen stattfinden, müssen auch selbstverständlich die Zeitungen sich beeilen, die Beurteilungen in kürzester Zeit zu bringen, um die Nenigkeitengier des großen Publikums zu befriedigen; und die Zugeständnisse an diese Gier sind schon so weit gediehen, daß selbst ernsthafte Kritiker von den Redactionen gedrängt werden, gleich unmittelbar nach wichtigen Vorstellungen — also in der Nacht — kurze Berichte darüber zu schreiben, damit die lesende Welt schon einige Stunden nach der ersten Aufführung einer neuen Oper oder nach dem ersten Auftreten irgend einer Berühmtheit vom Erfolge Kunde erhalte und um neun Uhr Morgens beim Thee oder Kaffee schon beiläufig wisse, ob das große Werk, das Abends zuvor von sieben bis zehn Uhr aufgeführt worden, gefallen habe oder nicht. Aber selbst die Zeitschriften, welche solche Zugeständnisse nicht bieten, werden die Besprechung nie später als am zweiten Tage nach der Aufführung bringen. Von dem Augenblicke nun, wo die Schnelligkeit ein wesentliches Moment der Berichterstattung bildet, muß auch selbstverständlich die leichte Faßlichkeit und die gefällige Form mehr wirken als der eigentliche Gehalt. Der übergroßen Mehrzahl der Zeitungsleser — selbst der gebildeten — wird immer die Kritik die willkommenste sein, welche sich am leichtesten aueignen läßt, das heißt, welche die gangbaren Kunstideen vertritt und jene Redewendungen