Heft 
(1881) 296
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Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 1850.

an als auf die anmuthende Darstellung. Wenn der Berichterstatter diese durchaus nicht leichte Aufgabe mit der möglichen Gewissenhaftigkeit erfüllt, so hat er ein Recht auf Lob, und wenn ihm hier und da phrasenhafte Urtheile in die Feder fließen, so hat der Leser wohl zu bedenken, daß der Kritiker die Verpflichtung hat, in bestimmtem kürzestem Zeiträume immer Neues und Anregendes zu bringen, und daß bei solcher gezwungenen Hast die Form über den Inhalt, die Phrase über den Gedanken manchmal das Uebergewicht ge­winnen muß. Der Vorwurf trifft nicht ihn, sondern das Amt und das Publikum, das im Grunde genommen es nicht an­ders will.

Manchen Lesern dürste meine Darlegung als pessimistisch grell gefärbt erscheinen. Ich will ein Factum aus der Mnsikwelt als unwiderleglichen Beweis anführeu. Unter allen Musikzeitungen Deutschlands haben dieSignale" die größte Ver­breitung, die beste Einnahme durch In­serate und einen unleugbar bedeutenden Einfluß, auch in den Fachkreisen; ihre Protection wird sehr gesucht, ihre Miß­gunst von Vielen und gar nicht Unbedeu­tenden sehr gefürchtet. Diese Musikzeitung vermeidet jede ausführliche sachliche Kri­tik, giebt nur ganz kurze Kritiken ohne Notenbeispiele rc., dagegen sehr witzig ge­schriebene Correspondenzen ans allen Län­dern und eine Masse Neuigkeiten, Anek­doten und dergl. Kann es einen besseren Beweis geben für die Richtigkeit meiner Darstellung als diese unleugbare Be­deutung einer mit vielem Geschick re- digirten und jeden fachwissenschaftlichen Artikel vermeidenden Musikzeitnng? Und darf man die Berichterstatter politischer Tagesblätter und das große Laienpublikum tadeln, wo ein solches Beispiel eines Fach­blattes vorliegt?

Anders jedoch verhält es sich mit dem Musikgelehrten, mit dem Aesthetiker, wenn er in einem Buche oder in einer Studie ein Urtheil fällt. Er schreibt nicht für das Zeitungspublikum. Sein Buch, seine Studie ist nicht für einen bestimmten Tag und für die gemischte Menge der Tages­leser bestimmt, sondern für diejenigen, welche vorbereitet sein müssen, daß sie selbst mit nachzudenken und zu erforschen haben und daß sie in dem Buche oder dem

Artikel vor Allem die richtige Grundlage und die Anweisung für dieses Nachdenken suchen. Hier sind streng sachliche und wissenschaftliche Darlegungen geboten, da­mit das Werk einen dauernden Werth behalte und dessen Wirkungen nicht ab­geschwächt werden durch die Concessionen an den Modegeschmack und an empfind­same Leser, welche es vorziehen, für einen großen Componisten gleich von vornherein zu schwärmen, anstatt ihn mit Mühe und Studium kennen und bewundern zu ler­nen; so wie manche Naturfreunde für die Gletscherwelt schwärmen, deren Beschrei­bung sie im Buche lesen, sich aber hüten, die etwas beschwerliche Besteigung des Berges zu unternehmen, von dessen Höhe sie die Schönheiten aus eigener Anschau­ung kennen lernten. Die Pflicht der Ge­lehrten und der Aesthetiker ist es, das Studium und die richtige Erkenntniß der hohen Kunstwerke zu befördern und nicht der feuilletonistischen Kunstphrase Vorschub zu leisten. Und hier sind wir zu der Schlußfrage gelangt: Welche Aufgabe hat die Musikästhetik zu erfüllen, welchen Weg einzuschlagen, damit sie die Erkennt­niß der Kunst und des Musikschönen be­fördere ?

Nach all den Besprechungen so vieler musikalischer Werke verschiedenartigsten Inhaltes glaube ich meine Ansichten über die Aufgabe der Musikästhetik nicht erst weitläufig motiviren zu müssen und kann mich wohl damit begnügen, die Hauptsätze, wie sie in den einzelnen Betrachtungen ausgesprochen und dargelegt waren, nun­mehr in ein Ganzes zusammenzufassen.

Die Musikästhetik hat sich auf drei wichtige Grundlagen zu stützen, deren jede ein besonderes Studium erfordert: auf die Seelenlehre, auf die Kenntniß der Regeln der Musik, wie sich dieselben im Laufe der Jahre entwickelt haben, und endlich auf die Metaphysik, welche manchen Erscheinungen im Geistesleben eine Er­klärung zu geben sucht, welche auf dem Wege der Erfahrung nicht zu finden ist. Durch die Seelenlehre, durch die Prüfung der Erregungen und ihrer Ursachen, wird festzustellen sein, wie viel von der Wir­kung dem Physiologischen und wie viel dem rein Geistigem zuzutheilen ist. Es