Heft 
(1881) 296
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Jllnstrirte Deuts

wird hierbei der Punkt genau im Auge zu behalten sein, der meiner Ansicht nach viel zu wenig beachtet ward: wie in den verschiedenen Zeiten die stärksten Assecte durch irgend eine Musik hervorgerufen worden sind, die unserer Zeit vollständig gleichgültig, ja, die sie als langweilig, wo nicht als unschön ansieht! ein Beweis, daß nicht der unveränderliche Inhalt der Musik allein, sondern in höherem Grade die aus der Culturgeschichte zu erklärende Gemnthsstimmung der Hörer die Assecte erzeugt hat, wie denn auch andererseits manche Musik Jahre lang mit Gleich­gültigkeit betrachtet wurde und nachher Enthusiasmus erregte, wie also die passive Empfindungsweise die Empfänglichkeit in der Musik noch viel stärkeren Wechseln unterworfen ist als in anderen Künsten.

Neben dieser Prüfung muß die der musikalischen Gesetze gehen, welche den rein künstlerischen Ursachen nachforscht, um deren willen die großen Tonmeister­werke dem Strome der Zeiten, dem Wechsel des äußerlichen Ausdruckes der Empfindung und der Mittel dieses Aus­druckes u. s. w. widerstanden und ihn kraft großer unmittelbarer Wirkung er­halten haben. Die Kenntniß dieser Ge­setze und die Prüfung des Kunstwerkes auf Grundlage solcher Kenntniß ist in der Musik für Begründung eines Urtheils un­erläßlicher als in anderen Künsten. Ueber ein Drama oder ein Gedicht kann der Gebildete urtheilen, wenn er auch vom Versmaß und der Cäsur nur wenig ver­steht. Um zu entscheiden, ob der Ausdruck der Empfindungen darin ein natürlich und doch poetisch höherer, dem Gewöhn­lichen fernstehender ist, dazu bedarf es keiner besonderen Poetik und auch keiner gelehrten Commentare. Selbst die richtige Wiedergabe der dramatischen Kunstwerke ist von solch genauer Kenntniß nicht ab­hängig. Man kann ohne das mindeste Bedenken und mit Bestimmtheit behaup­ten, daß vor dreißig und vierzig Jahren also in einer Zeit, als die Shakespeare- Literatur noch im Werden war und nicht wie jetzt eine ganze Bibliothek für sich bildete - die großen Schauspieler den Hamlet, Othello, Polonius, König Lear ebenso gut, wenn nicht besser und natür- j licher, mit weniger Künstelei darstellten, > als das jetzt geschieht, wo in zahlreichen I

che Monatshefte.

Büchern fast für jedes Wort der erwähn­ten Rollen eine Ausdrucksvorschrift zu finden ist. Das Urtheil über Werke der bildenden Kunst ist schon in höherem Grade an die Kenntniß der Gesetze und des Stils gebunden; Composition, Zeichnung, Farbe sind Jedes ein gewichtiges Moment für sich und verlangen einige Fachkennt- niß des Beurtheilers, zum wenigsten einen sehr geübten Blick und Geschmack; die Bildner- und die Baukunst in verstärktem Maße. Aber die stärksten Vorbedingungen für ein gültiges Urtheil stellt die Musik, obwohl mancher Laie, derviel gehört hat", nach seinemnatürlichen Gefühle" endgültig zu reden sich für befugt hält und auch diejenigen Besprechungen am meisten schätzt, in welchen mit schönen Worten an sein Gefühl und nicht an sein Kunstverständniß appellirt wird. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, wie viele Tonstücke, die ihrer Zeit als zu den besten und gefühlvollsten Werken gehörig gepriesen wurden, jetzt ganz gleichgültig lassen, während andere sich als durch alle Zeiten dauernd bewährten. Prüft man diese nun, und zwar beiden ältesten an­fangend bis zu den neuesten, so finden sich für die melodische und harmonische Entwickelung der musikalischen Gedanken, für Stimmführung, thematische Durch­führung, Rhythmus, Periodenbau, Ein­heitlichkeit des Stils und zugleich Cha­rakteristik der Gegensätze* gewisse Gesetze, welchen die großen Meister immer un­bewußt gehorchten, selbst wenn sie manche als gültig angenommene Regel unbeachtet ließen oder absichtlich bei Seite setzten. Es läßt sich Nachweisen, daß in den allgemein wirksamsten Werken selbst der zeitgenössischen Meister die eben angeführ­ten Entwickelungen rein musikalischer Art (der absoluten Musik") am stärksten her­vortreten; daß also die entschiedenste und

* Auch dieser Punkt ist von der Kritik nicht eingehend genug geprüft worden. Die großen Mei­ster der ciajsischen Periode haben immer Motive erfunden, die in der Führung der Melodie, im Rhythmus oder in harmonischen Wendungen einen Gegensatz zum Hauptmotiv bildeten. Erst mit der romantischen Periode beginnt das Jneinanderfließen der Hauptmotive und das Streben nach Gegensätzen in dem Nebensächlichen, jähe unmotivirte Harmonie- wechsel, Verschiebung der Rhythmen u. dergl. Solche immerwährende Abwechselung führt zur abspannen- l den Einförmigkeit.