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Ehrlich: Die musikalisch-ästhetische Literatur seit 1850.
nachhaltigste Anregung der Gefühle durch diejenigen Tonwerke erzeugt wird, welche dein Begriffe der musikalischen Schönheit in irgend einer Richtung ganz besonders entsprechen, sei es nun in Wohllaut und Eigenthümlichkeit der Melodie, in Kraft des Rhythmus, in Großartigkeit und Klangwirkung der Harmonie, in schwungvoller Entfaltung der Themen, in künstlerischer Behandlung der einzelnen Formen. Wo sich nicht irgend eine von diesen Eigenschaften musikalischer Schönheit Nachweisen läßt und doch eine Wirkung erzeugt wurde, da ist diese nur aus jener öfters angeführten, von den Hörern mitgebrachten Vorstimmung zu erklären, welche sich dem Bereiche der künstlerischen Beurtheilung entzieht.
Nachdem nun die Prüfung des Ton- knnstwerkes ans Grundlage der Gesetze musikalischer Schönheit vorgenommen ward, läßt sich dem Eindrücke vom ethischen Standpunkte uachforschen. Hierbei ist im Auge zu behalten, daß alle wahren Kunstwerke eine ethische Wirkung erzeugen, das heißt den Geist vom Gemeinen, Niederen, vom Streben des Tages abwenden und zu höheren Ideen anregen, die in immerwährender Läuterung bis zu den Regionen des Göttlichen sich erheben; daß bei der Musik durch die stärkere Erregung der Nerven vermittelst der Schallwellen auch die Einbildungskraft des Geistes schneller zur vorwaltenden Tüchtigkeit sich entfaltet, und daß also jene Erhebung des Geistes bei dein Anhören der Musik allerdings eine höher und rascher potenzirte sein kann als beim Beschauen eines Bildes oder dem Lesen eines Gedichtes. Es wird eine Aufgabe der Musikästhetik sein, den unleugbaren physiologischen Vorgang einerseits und die durch Läuterung dieses Vorganges durch reinen Kunstgenuß erzeugte geistige Erhebung
andererseits genau zu trennen, damit nicht die subjective höhere geistige Erregtheit und moralische Wirkung mit einander verwechselt werden? Daß in der Kunst überhaupt nichts Höheres „ohne einigen Gott" geschehen kann, wird keiner leug- ^ neu, der sich mit der Kunst ernsthaft beschäftigt hat. Ebenso unleugbar ist es auch, daß der ethische Standpunkt, gleichviel wie er nach dem System benannt wird, bei der Beurtheilung des Kunstwerkes in den Vordergrund geschoben werden darf, wenn man nicht einer sehr großen Anzahl von bedeutenden Werken in allen Künsten von vornherein die Existenzberechtigung absprechen und die heitere Muse beseitigen will. Wenn die Musikästhetik den Weg der künstlerischen Beurtheilung als den wichtigsten erkennen und alles Schönreden vermeiden wird, kann auch die wahre Erkenntnis; der ethischen Wirkung festen Fuß fassen. Dann wird auch der Schwerpunkt des Einflusses ; von der Tageskritik nach und nach zur ruhigen, gründlichen, ans Fachkenntniß und > Forschung sich stützenden Beurtheilung der wissenschaftlichen Zeitschrift zurückkehren. Bis dorthin ist allerdings noch ein langer Weg!
* Der Verfasser weiß- kein besseres Beispiel gegen die Vermengung zu geben als eines aus seinem
Leben. Im Adagio der „Eroica" ist eine Stelle
nach der sugirten Durchführung, wo ein einzelnes ns der Violine von dem as der Bässe beantwortet wird, dann mit einem Male ertönen die Hörner und Trompeten mit dem Quartett zusammen. So ' oft der Verfasser diese Stelle hört oder auch nur s in der Partitur betrachtet, überkommt ihn sofort immer ein und dieselbe Erscheinung: er steht allein auf einer unendlichen, unübersehbaren Einöde,
! unten Alles finster, oben hell, die Posaunen des jüngsten Gerichts ertönen, die Engel erscheinen, die Gräber der Erde öffnen sich. Das ist sein subjec-
tives Empfinden bei dieser Stelle — aber wenn
sie ein Anderer in einer künstlerischen Beurtheilung der „Eroica" in solcher Weise deuten wollte, wäre er der Erste, sich dagegen zu erklären.