Brandes: Die Generation von
Außerdem hatte aber das geistige Leben in den höchsten Kreisen, die den Ton und den Stil der schönen Literatur bestimmten, nur in ganz ferner Verbindung mit der politischen Reaction gestanden. Es galt in diesen Kreisen als nationale Ueberliefe- rnng, Literatur und Kunst mit vielseitiger Bildung und weitgehenden Sympathien entgegenzukommen. Eine nachsichtige Skepsis in religiöser, eine geniale Ungebundenheit und feinfühlende Toleranz in sittlicher Hinsicht, das war die Atmosphäre, in der die gute Gesellschaft athmete und die sie um sich verbreitete, und keine konnte für eine in starkem Wachsthnm sich befindende poetische Vegetation günstiger und befruchtender sein. Während der Druck der Reaction in politischen Dingen freien Sinn erzeugte, gestattete die Bildung der tonangebenden Gesellschaft der jungen Literatur offenen Raum für freie Empfindungs- und Denkweise außerhalb der Politik und erforderte nur Feinheit und Vollendung der Form. Sie war also im Stande, einer beginnenden geistigen Bewegung aufs glücklichste freie Zügel zu geben oder, wie die Engländer sagen, zu starten.
Und da nun nach der Thronbesteigung Louis Philippe's Frankreich in der äußeren Politik Demüthigung auf Demüthigung erlitt; da nach innen hin die unaufhörlichen Geldforderungen des Königshauses, die von den Kammern fast immer zurückgewiesen wurden, die Regierung aller Würde entkleideten; da die wohlhabende Mittelclasse, die eigentliche Bourgeoisie, im Besitz des endlich freigewordenen Ca- pitals, sich im Schutz des königlichen Regenschirms aller Vortheile bemächtigte; da — neben der Neigung zu materiellen Genüssen und zum unkünstlerischen Luxus — ein von der Furcht vor dem vierten Stande bedingtes frömmelndes Wesen sich epidemisch zu verbreiten anfing; da man sich den Kunstgriffen des Millionärs gegenüber tolerant, den Verirrungen des weiblichen Herzens gegenüber pharisäerhaft zeigte — so waren in dieser Gesellschaft — wo nur der Utilitarismus herrschte, wo die Capitalmacht, stark wie der neugeborene Herkules, schon in der Wiege die ganze äußere Romantik des Lebens erstickt hatte, wo bei der Machtergreifung der bürgerlichen Gesellschaft die Spieß-
1830 in der französischen Poesie. 259
bürgerlichkeit zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine Macht geworden war — alle Bedingungen gesammelt, um die dichterischen und künstlerischen Regungen junger unruhiger Gemüther mit Gewalt in romantische Schwärmerei, in glühende Verachtung der öffentlichen Meinung, in die Vergötterung der ungeregelten Leidenschaft und der ungebundenen Genialität hineinzutreiben.
Der Haß gegen den Bourgeois wurde, wie in Deutschland ein Menschenalter früher der Kriegsruf gegen den Philister, das gemeinsame Feldgeschrei. Aber während das Wort Philister den Gedanken an die Ofenecke und die Pfeife hervorruft, spielt Bourgeois auf die absolute Herrschaft der ökonomischen Interessen an. Durch den naturgemäßen Gegensatz zur Nützlichkeitslehre und zur Plutokratie erhielt die geistige Strömung in den schon emporgekommenen und noch mehr in den keimenden Talenten eine Schwenkung in die principielle Opposition gegen alles Bestehende und Gewohnheitsmäßige hinein und zugleich eine heftige Förderung. Die Religion der Kunst, der Freiheit in der Kunst, ergriff plötzlich alle Herzen. Die Kunst war das Höchste, das Einzige, das Licht und die Flamme, ihre Schönheit und Kühnheit allein gab dem Leben Werth.
Eine Bewegung, die an die Renaissance erinnert, hatte die Gemüther gepackt. Es war, als ob die Lust, die man athmete, etwas Berauschendes hätte. In jener langen Zeit, während Frankreich geistig still stand, hatten die großen Nachbarvölker, Deutsche und Engländer, es weit überholt, einen Vorsprung in der Befreiung von alten, hemmenden Traditionen gewonnen. Man wußte es, man fühlte es mit Demüthigung, und dieses Gefühl gab dem neuen Kunstenthusiasmus einen Stachel. Gleichzeitig kamen die fremden zeitgenössischen oder älteren, aber bisher unbekannten Werke über die Grenzen und revolutionirten die jungen Gemüther. Man las Shakespeare und Walter Scott, Byron's „Corsar" und „Lara" in Ueber- setzungen; man verschlang Goethe's „Wer- ther" und Hoffmann's Phantasien.
Und auf einmal fühlten die Pfleger der verschiedenen Künste sich als Brüder. Die Musiker inspirirten sich an fremden und inländischen Poesien. Dichter, wie