260 Jllustrirtc Deutsche Monatshefte.
Hugo, Gautier, Märimee, Borel, verstanden zu zeichnen nnd zu malen. Man las Gedichte in den Ateliers der Maler und Bildhauer; der junge Schüler in der Werkstatt Delacroix' oder Devöria's summte bei seiner Staffelei eine Ballade von Victor Hugo. Einzelne der großen fremden Dichter, wie Scott und Byron, beeinflussen auf einmal die Dichter, die Musiker und die Maler. Die Künstler streben, ihr eigenes Gebiet zu überschreiteil, um sich einer Schwesterkunst zu nähern. Die Musik wird bei Berlioz und Fölicien David malend, Programmmusik; die Malerkunst nähert sich bisweilen — bei Delacroix, Delaroche, Ary Schefser — der Illustration von Poesie. Hauptsächlich ist es aber die Malerei, welche die anderen Künste, besonders die Poesie, und zwar zu ihrem Besten, beeinflußt.
Der Liebende bat nicht mehr wie zu Racine's Zeit die Dame seines Herzens, „seine Flamme zu krönen", man forderte poetische Bilder, die sich malen ließen und dem Auge kein Nonsens darboten.
In den wenigen Jahren von 1829 bis 1831 stellt Delacroix seine berühmten Gemälde „Der Bischof von Lüttich" und „Die Freiheit auf der Barrikade" aus, erweckt Ander im Opernhaus einen Sturm mit der „Stummen von Portici", erringt Meyerbeer einen ebenso großen Erfolg mit „Robert le Diable", wird Victor Hugo's „Hernani" zum ersten Mal im Theatre sranpais aufgeführt und macht Dumas' „Antony" auf einer anderen Bühne zum ersten Mal Furore. Gleichzeitig entstanden Hugo in der Poesie, Delacroix in der Malerkunst, David d'Angers in der Bildhauerkunst, Berlioz in der Musik, Sainte-Beuve und Gautier in der Kritik, Frödöric Lemaltre und Marie Dorval in der Schauspielkunst und in der ausübenden Musikkunst die zwei dämonischen Virtuosen Chopin nnd Liszt. Alle wie Einer verkünden sie das Evangelium der Natur und der Leidenschaft, und rings um sie herum stehen junge Männer, die Kunst und Poesie auf nahverwandte Weise auffassen nnd pflegen.
Man suchte und verherrlichte überall das Primitive, das Unbewußte, das Bolks- thümliche. Wir sind Rhetoren gewesen! rief man aus; wir haben nie das Ursprüngliche und das Unlogische begriffen,
nie den Barbaren, nie das Volk, nie das Kind, nie das Weib, nie den Dichter verstanden !
Früher hatte das Volk in der Poesie nur den Hintergrund gebildet. In Victor Hugo's Dramen betrat der tiefempfindende, zornschnaubende Plebejer die Bühne. Früher hatte der Barbar wie ein Franzose des achtzehnten Jahrhunderts gesprochen. Msrimöe stellte in Colomba's Gestalt barbarische Gefühle in ihrer naiven Wildheit und Frische dar. Bei Racine (in Athalie) hatte das Kind wie ein Miniatur- Erwachsener gesprochen; Nodier legte mit kindlichein Herzen den Kindern unschuldige Worte in den Mund. Früher war in französischer Poesie die Frau meistens bewußt und räsouuireud wie eiu Mann gewesen. So bei Corneille, Moliöre und Voltaire. Corneille hatte der Tugend, Cröbillon tlls dem Laster gehuldigt, aber Tugend und Laster waren beide bewußt nnd erworben. George Sand stellte dagegen den angeborenen Adel und die ursprüngliche Güte edler Frauenherzen dar. Madame de Staöl hatte in „Corinna" den überlegenen Geist der Frau als großes siegreiches Talent verherrlicht. George Sand schilderte in „Lslia" das weibliche Genie als die mächtige Sibylle. Nach der alten Auffassung war der Dichter (wie Racine nnd Moliöre) ein Hofmann, oder (wie Voltaire und Beaumarchais) eiu Weltmann, oder (wie Lafontaine) ein guter Kerl gewesen. Jetzt wurde er das ausgestoßene Stiefkind der Gesellschaft, der Hohepriester der Menschheit, oft arm und übersehen, aber mit dem Stern an der Stirn und der Flamme der Lyrik ans der Zunge; Hugo pries ihn in seinen Liedern als den Hirten der Völker, und de Vigny stellte ihn in „Stello" und „Chatterton" als das sublime Kind dar, das lieber vor Hunger stirbt, als daß es durch gewöhnliche Arbeit seine Muse erniedrigt, das aber noch im Tode die Menschheit segnet, die es zu spät erkennt.
Jene Geister wußten es nicht immer, daß sie vor den Augen der Nachwelt eine natürliche Gruppe bilden würden. Viele der größten unter ihnen fühlten sich ihr Leben lang einander fremd und meinten, in verschiedenem Geiste, sogar in entgegengesetzter Richtung zu arbeiten. Sie hatten nicht ganz Unrecht, denn die Grundab-