Heft 
(1881) 296
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Brandes: Die Generation von

weichungen unter ihnen können stark sein. Aber doch verbinden gemeinsame Vorzüge, Vornrtheile, Ziele und Fehler sie zu einem Ganzen. Und weit häufiger, als es sonst die Regel ist, fühlten die, welche die Betrachtung zusammenzusassen geneigt ist, sich schon bei ihren Lebzeiten innig zu einander gezogen, nnd viele der Besten legten früh ihre Hände in die Hände der Anderen und bildeten einen Bund. Geht man den Verbindungsgliedern nach, so findet man ein Band, das den ganzen Kreis zusammenhält.

Wenn man heutzutage, so viele Jahre danach, im trockenen literarhistorischen Sinne die Worte sagt:Sie bildeten eine Schule," so stellt man sich's selten hinlänglich lebendig vor Angen, was es heißt, daß in Literatur oder Kunst eine Schule sich bildet. Es liegt ein geheim- nißvoller Zauber in einer solchen Stiftung. In der Regel geht es so zu: ein einzelner hervorragender Geist, der lange unbewußt und halbbewußt, zuletzt bewußt sich von Vorurtheilen zur Klarheit durchgekämpft und durch dessen Gesichtskreis, als Alles vorbereitet war, der Blitz der Genia­lität gezuckt hat, spricht wie Hugo in einer Vorrede auf einigen Prosaseiten oder wie Andere in einem Gedicht, einer Rede Gedanken aus, die nie früher so gedacht und gesagt waren, die vielleicht nur halbwegs wahr oder undeutlich sind, die aber die sonderbare Eigenschaft be­sitzen, die herrschenden Interessen und Eitelkeiten tödlich zu verletzen, und zu­gleich wie Locktöne, wie eine Tollkühnheit, wie eine Losung in die Ohren eines neuen Geschlechts klingen.

Kaum sind diese Worte ausgesprochen, so folgt mit erstaunlicher Schnelligkeit wie das Gebell einer Mente die tausend- züngige Antwort der älteren Generation. Und dann- dann kommt erst Einer, dann noch Einer, dann ein Dritter zu dem Fürsprecher der neuen Richtung und zeigen ihm, daß das Wort, das er aus­gesprochen hat, in ihnen Fleisch und Blut ist. Die, welche noch kürzlich einander ebenso unbekannt waren, wie sie Jeder für sich noch der Welt unbekannt sind, und die in ihrer Jsolirtheit sich unglücklich fühlten, die treffen sich und spüren mit einer eigenthümlichen Befriedigung, daß sie sich verstehen, daß sie dieselbe Sprache

1830 in der fr anzösischen Poesie. 261

sprechen, die sonst unter den Zeitgenossen Niemand spricht. Sie sind sehr jung, und doch hat Jeder schon seinen Lebensinhalt, der Eine seine theuer erkauften Genüsse, der Andere seine abhärtenden Leiden,

! Jeder kommt mit seiner Entrüstung, seinem Ehrgeiz, seinen Bedürfnissen und Hoff­nungen, und ans diesem Lebensstoff hat Jeder sein Maß von Enthusiasmus ge­schöpft.

Das eigenthümlich Französische bei der Stiftung der romantischen Schule ist jedoch zweifach: erstens der Hang, unbe­grenzt zu revoltiren, alten Ideen und Formen, angeerbter Moral und Sitte, jeglicher Ueberlieferung einen principiellen Krieg zu erklären, das ist der verände- rnngssüchtige revolutionäre Trieb der Race dann das Bedürfniß, sich in dieser Opposition eine Art Disciplin aus­zulegen, sich um einen Führer zu scharen und sogar in einer rein geistigen, nur auf individuelle Art zu betreibenden Angelegen­heit wie der Kunst sich fast militärisch zu associiren.

Doch das Schönste bei dieser Kry- stallisirung junger, künstlerisch angelegter Geister zu einer Schule war die Scheu, die Ehrfurcht, die sie trotz aller Kamerad­schaft vor einander hegten. Jeder war dem Anderen ein Venerabile. Dieser Zng ist nicht specifisch französisch, er ist menschlich. Junge productive Geister be­trachten einander als etwas Wundervolles, aus dem immer neue Ueberraschungen be­vorstehen können. Die innere Werkstatt des Einen ist ja dem Anderen ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch. Er weiß nicht, welches Werk das nächste Mal aus dieser Werkstatt hervorgehen wird, ahnt nicht, welche Genüsse er von dem Anderen zu erwarten hat. Sie achten an einander etwas, das ihnen höher steht als die Persönlichkeit und der in der Regel noch unentwickelte Charakter: das Talent, durch welches sie sich zu ihrer Gottheit, der Kunst, verhalten.

Selten hat jedoch diese gegenseitige Verehrung junger und reiner Gemüther die in Verfallsperioden ihre Caricatur in der berechnenden gegenseitigen Be­wunderung hat so das Gepräge von romantischer Schwärmerei gehabt wie bei der Generation von 1830. Fast alle poetischen Erzeugnisse jener Zeit beweisen,