Heft 
(1881) 296
Seite
263
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Brandes: Die Generation von

Werk nicht rücksichtslos zu schreiben ge­wagt, sein Publikum um Rath gefragt, sich nach den Borurtheilen, der Unwissen­heit, der Uuwahrhaftigkeit seines Publi­kums gerichtet hat, so kann er die höchste Anerkennung bei seinen Zeitgenossen ge­funden haben und er hat sie in der Regel gefunden, kann Lorbeeren und Gold gewonnen haben für die Litera­turgeschichte bleibt sein Werk werthlos. Alle jene Products einer Vernunftehe des Schriftstellers mit dem Publikum sind ein Menschenalter später kalt wie Leichen. Sie enthielten keine wirkliche Summe von Lebenskraft, nur Furcht­samkeit einem Publikum gegenüber, das längst ausgestorben ist, nur Entgegen­kommen allen Ansprüchen, die längst ver­stummten. Jedes noch so wenig gelesene Buch dagegen, in welchem der Verfasser ohne Nebenrücksichten so gesprochen, wie er fühlte, und so gemalt hat, wie er sah, ist und bleibt eine inhaltschwere Urkunde.

Man sage nicht, daß diese Vernrthei- lung der von dem Publikum bestimmten Dichtung sich mit der Nachweisung des entscheidenden Einflusses der socialen Um­gebungen ans den Schriftsteller nicht ver­einigen läßt. Der Schriftsteller kann sich ganz gewiß nicht außerhalb seines Zeit­alters stellen. Aber die Zeitströmung ist nicht einfach, sie ist doppelt; es giebt hier einen Ober- und einen Unterstrom. Nur von dem ersteren sich treiben zu lassen, ist Schwäche und führt ins Verderben. Mit anderen Worten: es giebt zu jeder Zeit herrschende und beliebte Ideen und Formen, die nichts sind als die längst ge­zogenen, nach und nach verknöcherten Re­sultate früherer Zeiten, und es giebt eine ganz andere Elaste von Impulsen, die noch nicht Form gewonnen haben, aber in der Luft liegen und die von den begab­testen Schriftstellern einer Epoche als die zu ziehenden Resultate empfunden werden. Diese sind es, die das vereinigende Ele­ment der Bestrebungen bilden.

Im Jahre 1827 gastirten englische Schauspieler in Paris, und zum ersten Male sahen die Franzosen die Meister­werke Shakespeare'sKönig Lear",Mac­beth",Othello",Hamlet" bewunderns­wertst ausgeführt. Unter dein Eindruck dieser Theaterabende schrieb Victor Hugo seine Vorrede zuCromwell", die als

1830 in der französischen Poesie. 263

das Programm der neuen Literatur aus­gefaßt wurde.

Der poetische Freiheitskrieg begann mit einem Sturmlauf gegen die elastisch-fran­zösische Tragödie, den schwächsten und am meisten ausgesetzten Punkt der literären Traditionen. Für den, der die Angriffe Lessing's, Wilhelm Schlegel's und der englischen Romantiker auf die Autorität derselben kennt, bietet das Manifest Victor Hugo's wenig Neues. Er kämpft im Namen des Christenthums, das uns gelehrt hat, daß der Mensch aus Leib und Seele be­stehe, dafür, daß die moderne Poesie so­wohl das Groteske den Leib wie das Erhabene -- die Seele- in das­selbe Werk aufnehmen dürfe. Die Tra­gödie brauche also nicht immer feierlich zu sein, sie dürfe sich zum Drama erweitern.

Er liefert mit anderen Worten einen naturalistischen Protest gegen das Abstract- Schöne als einzigen oder doch eigent­lichen Gegenstand der Kunst. Man spürt es an seinen Beispielen. Der Richter soll sagen dürfen: Zum Tode verurtheilt und laßt uns jetzt zu Mittag essen. Cäsar darf in dem Triumphwagen Furcht haben, umgeworfen zu werden.

Die Lehre wurde von den Gegnern mit der Formellls lwä o'sm W borni" parodirt und mit den Einwendungen be­kämpft, die heutzutage gegen den extremen Naturalismus geltend gemacht werden.

War denn dieser französische Romanti- cismus nicht einfach ein leicht verkappter Naturalismus? Was Hugo im Namen des jungen Geschlechts forderte, war ja doch nur Natur, wahrheitsgetreue Wieder­gabe, Localfarbe und historische Farbe. George Sand ist ja nur die Tochter Rousseau's, des Verkünders eines Natur­evangeliums; Mörinlse und Stendhal sind halb brutale, halbwegs elegante Natur­anbeter; Balzac wird heutzutage sogar als Haupt der naturalistischen Schule ver­ehrt.

Die Antwort ist nicht schwer. Hugo's Losung war zwar Natur und Wahrheit, was er suchte, war aber zugleich und vor Allem Contrastwirkung, malerischer Gegen­satz, Antithese auf der Grundlage des mittelalterlichen Dualismus von Leib und Seele und einer dualistischen Romantik. Der Salamander verschönert die Undine, der Gnom die Sylphide," sagt er. Er