Brandes: Die Generation von
Werk nicht rücksichtslos zu schreiben gewagt, sein Publikum um Rath gefragt, sich nach den Borurtheilen, der Unwissenheit, der Uuwahrhaftigkeit seines Publikums gerichtet hat, so kann er die höchste Anerkennung bei seinen Zeitgenossen gefunden haben — und er hat sie in der Regel gefunden —, kann Lorbeeren und Gold gewonnen haben — für die Literaturgeschichte bleibt sein Werk werthlos. Alle jene Products einer Vernunftehe des Schriftstellers mit dem Publikum sind ein Menschenalter später kalt wie Leichen. Sie enthielten keine wirkliche Summe von Lebenskraft, nur Furchtsamkeit einem Publikum gegenüber, das längst ausgestorben ist, nur Entgegenkommen allen Ansprüchen, die längst verstummten. Jedes noch so wenig gelesene Buch dagegen, in welchem der Verfasser ohne Nebenrücksichten so gesprochen, wie er fühlte, und so gemalt hat, wie er sah, ist und bleibt eine inhaltschwere Urkunde.
Man sage nicht, daß diese Vernrthei- lung der von dem Publikum bestimmten Dichtung sich mit der Nachweisung des entscheidenden Einflusses der socialen Umgebungen ans den Schriftsteller nicht vereinigen läßt. Der Schriftsteller kann sich ganz gewiß nicht außerhalb seines Zeitalters stellen. Aber die Zeitströmung ist nicht einfach, sie ist doppelt; es giebt hier einen Ober- und einen Unterstrom. Nur von dem ersteren sich treiben zu lassen, ist Schwäche und führt ins Verderben. Mit anderen Worten: es giebt zu jeder Zeit herrschende und beliebte Ideen und Formen, die nichts sind als die längst gezogenen, nach und nach verknöcherten Resultate früherer Zeiten, und es giebt eine ganz andere Elaste von Impulsen, die noch nicht Form gewonnen haben, aber in der Luft liegen und die von den begabtesten Schriftstellern einer Epoche als die zu ziehenden Resultate empfunden werden. Diese sind es, die das vereinigende Element der Bestrebungen bilden.
Im Jahre 1827 gastirten englische Schauspieler in Paris, und zum ersten Male sahen die Franzosen die Meisterwerke Shakespeare's „König Lear", „Macbeth", „Othello", „Hamlet" bewundernswertst ausgeführt. Unter dein Eindruck dieser Theaterabende schrieb Victor Hugo seine Vorrede zu „Cromwell", die als
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das Programm der neuen Literatur ausgefaßt wurde.
Der poetische Freiheitskrieg begann mit einem Sturmlauf gegen die elastisch-französische Tragödie, den schwächsten und am meisten ausgesetzten Punkt der literären Traditionen. Für den, der die Angriffe Lessing's, Wilhelm Schlegel's und der englischen Romantiker auf die Autorität derselben kennt, bietet das Manifest Victor Hugo's wenig Neues. Er kämpft im Namen des Christenthums, das uns gelehrt hat, daß der Mensch aus Leib und Seele bestehe, dafür, daß die moderne Poesie sowohl das Groteske — den Leib — wie das Erhabene -- die Seele —- in dasselbe Werk aufnehmen dürfe. Die Tragödie brauche also nicht immer feierlich zu sein, sie dürfe sich zum Drama erweitern.
Er liefert mit anderen Worten einen naturalistischen Protest gegen das Abstract- Schöne als einzigen oder doch eigentlichen Gegenstand der Kunst. Man spürt es an seinen Beispielen. Der Richter soll sagen dürfen: Zum Tode verurtheilt — und laßt uns jetzt zu Mittag essen. Cäsar darf in dem Triumphwagen Furcht haben, umgeworfen zu werden.
Die Lehre wurde von den Gegnern mit der Formel „lls lwä o'sm W borni" parodirt und mit den Einwendungen bekämpft, die heutzutage gegen den extremen Naturalismus geltend gemacht werden.
War denn dieser französische Romanti- cismus nicht einfach ein leicht verkappter Naturalismus? Was Hugo im Namen des jungen Geschlechts forderte, war ja doch nur Natur, wahrheitsgetreue Wiedergabe, Localfarbe und historische Farbe. George Sand ist ja nur die Tochter Rousseau's, des Verkünders eines Naturevangeliums; Mörinlse und Stendhal sind halb brutale, halbwegs elegante Naturanbeter; Balzac wird heutzutage sogar als Haupt der naturalistischen Schule verehrt.
Die Antwort ist nicht schwer. Hugo's Losung war zwar Natur und Wahrheit, was er suchte, war aber zugleich und vor Allem Contrastwirkung, malerischer Gegensatz, Antithese auf der Grundlage des mittelalterlichen Dualismus von Leib und Seele und einer dualistischen Romantik. „Der Salamander verschönert die Undine, der Gnom die Sylphide," sagt er. Er