Heft 
(1881) 298
Seite
445
Einzelbild herunterladen

445

Büchner: Die Macht der Vererbunq.

schulen oder dressiren, so viel man will es sei denn in einzelnen Dingen oder Richtungen, zu deren Verfolgung und Ausbeutung ein geringeres, mit Energie gepaartes Maß von Verstandeskraft aus­reicht. Wer keinen angeborenen Trieb zum Gelderwerb, zur Sparsamkeit u. s. w. hat, wird niemals durch eigene Anstren­gung ein reicher Mann werden; wer keinen angeborenen Muth hat, wird keine Rolle als Soldat, Reisender, Politiker u. s. w. spielen; wer keine Willenskraft oder angeborene Festigkeit des Charakters hat, wird sie durch keine Art von Vorsatz oder Anleitung zu erlangen im Stande sein; wer von unmoralischen oder ver­schwendungssüchtigen Eltern abstammt, wird stets mit der Neigung zu einein ähnlichen Verhalten zu kämpfen haben, während umgekehrt der in hohem Grade Geizige oder Gewissenhafte diese Neigun­gen in der Regel auch in seinen Kindern wiederkehren sieht.

Es braucht wohl kaum gesagt zu wer­den, daß beide Ansichten, in dieser Einseitigkeit ausgedrückt, falsch sind und daß die Wahrheit auch hier wie in allen menschlichen Dingen in der Mitte liegt. Die Erziehung kann Vieles, aber nicht Alles. Sie kann eine vorhandene Anlage ausbilden oder unterdrücken, aber niemals eine nicht vorhandene ersetzen. Sie kann, conseqnent durchgeführt, selbst bei mittelmäßigen Anlagen oft große Resultate erzielen; aber sie ist und bleibt in der Regel ohnmächtig, wo diese An­lagen ganz fehlen oder wo bereits die Herkunft au sich ihr unüberwindliche Schwierigkeiten in den Weg legt. Es ist bekannt und wurde bereits darauf hin­gewiesen, welche wenig befriedigenden Re­sultate die europäischen Missionäre durch Erziehung junger Wilden zu erreichen pflegen. Sie lernen mitunter anfangs leicht, nehmen auch einen gewissen An­strich europäischer Cultur an, fallen aber in der Regel mit Erreichung der Puber­tät rasch in den Zustand der Wildheit zurück. Die Erziehung gut veranlagter, von Geburt aus geistig geweckter und namentlich mit Anlage zur Entwickelung moralischen Sinnes versehener Kinder ist für den Pädagogen eine Lust und eine verhältnißmäßig leichte Aufgabe, während umgekehrt Stupidität, Mangel an Ver­

stand oder angeborene Charakterfehler durch keine Art der Erziehung zu bewäl­tigen sind.

Umgekehrt bedeuten die besten ange­borenen Anlagen in der Regel wenig oder nichts, wenn sie nicht ausgebildet werden oder wenn sie ohne Gelegenheit zu ihrer Entfaltung bleiben. Man macht allerdings gegen diese, wie es scheint, selbstverständliche Behauptung geltend, daß es nicht an Beispielen fehle, wo hervorragende Genies oder Menschen nüt großen angeborenen Anlagen auch bei schlechter Erziehung oder unter widri­gen Umständen ihr Ziel erreicht hätten, so z. B. Shakespeare, d'Alembert, Na­poleon I., Schiller u. s. w., und knüpft daran die oft gehörte Behauptung, daß solche Genies immer und unter allen Umständen zumDurchbruch" kämen oder kommen müßten. Aber schon die bekannte, aus Erfahrung hergeleitete Redensart von den sogenanntenverdorbenen Genies" zeigt, daß die Behauptung in solcher All­gemeinheit nicht richtig sein kann und daß gar manches Genie in Verborgenheit verkommen sein mag, von dem die Welt nie etwas erfahren hat. Ja, man darf mit großer Wahrscheinlichkeit vermnthen, daß die Zahl der nicht zumDurch­bruch" gekommenen Genies bedeutend größer sein möge als die des Gegen­teils.

Indessen kommt die Geniefrage hierbei weit weniger in Betracht als die große und die Genies weit überragende Menge der Durchschnittsnaturen oder Durch­schnittsmenschen, welche, mit mittelmäßigen Naturanlagen versehen, der künstlichen Ausbildung dieser Anlagen oder der Er­ziehung notwendig bedürfen, um ihr Ziel zu erreichen, während bei Genies wie bei Idioten der Einfluß der Er­ziehung der angeborenen Anlage gegen­über mehr in den Hintergrund tritt.

So kann man als allgemeines Resultat dieser Untersuchung aussprechen, daß der einzelne Mensch als ein mittleres Resultat aus Angeborenheit und aus Erziehung oder Aubildung erscheint, und daß man, wenn man das Richtige erkennen will, nicht willkürlich das einzelne Moment vor das andere stellen darf, sondern daß man stets beide Einflüsse gleichzeitig vor Augen haben muß, vorsichtig erwägend,