Büchner: Die Macht der Vererbung.
449
im Sinne allmäliger, durch Vererbung bleibend gewordener Entstehung genommen werden.
Diese Grundsätze gelten auch in ganz gleicher Weise für die Jnstincte der Menschennatur oder für die unbewußten Antriebe der Menschenseele. Will man überhaupt von Jnstinct reden, so muß man denselben dem Menschen, wenn auch in einem beschränkteren Sinne, geradeso zugestehen wie dem Thier — was auch gegenwärtig von allen der Erfahrung huldigenden Forschern auf diesem Gebiete bereitwillig anerkannt wird. — „Wie hohl die dünkelhafte Einbildung ist," sagt z. B. G. H. Schneider (Der thierische Wille, S. 61), „daß alle Handlungen des Menschen zweckbewußte und die der Thiere nur instmetive seien, das beweist die Thatsache von dem Jnstincte, der den menschlichen Willensäußerungen zu Grunde liegt." — „Bei allen Handlungen des Menschen zur Selbstexistenz wie zur Fortpflanzung ist mehr oder weniger sogenannter Jnstinct zu finden." — „Der Nahrungs- und Fortpflanzungstrieb, der Erwerbtrieb, der Liebestrieb, der Schutzoder Erhaltungstrieb, die Schamhaftigkeit bei civilisirten Nationen, die Mutterliebe, der Spiel- und Nachahmungstrieb u. s. w. beruhen alle mehr oder weniger auf ererbten Jnstincten oder Antrieben." — „Bei der Wahl der Mittel zur Erreichung der Selbstexistenz und Arterhaltung tritt die zweckbewnßte Geistesthätigkeit in den Vordergrund; die Anregung aber zu irgend einer Wahl und Anwendung solcher Mittel ist im unbewußten und zum größten Theil angeborenen Triebe, im Jnstincte, gegeben."
Einer der interessantesten und wichtigsten Jnstincte der Menschennatur ist der moralische Jnstinct oder die angeborene Neigung des Culturmenschen zu moralischem Verhalten. Bekanntlich leiten die Moralisten diese Neigung aus einem allen Menschen an- und eingeborenen sogenannten Sittengesetz oder Gewissen ab — eine Theorie, welche in der Philosophie unter dem Namen des „kategorischen Imperativs" von Kant berühmt geworden ist. — An dieser Theorie ist etwas Wahres, aber dennoch schließt sie einen doppelten Jrrthum ein. Denn erstens ist das Moralgesetz nicht, wie jene Theore-
M onci 1 s h e ft e, N- 288. — Juli 1881. — Vierte FvN
tiker meinen, allen Menschen in gleicher Weise und auch nicht apriorisch oder vor aller Erfahrung eingepslanzt, und zweitens enthält es keine bestimmten Regeln oder Vorschriften darüber, wie zu handeln ist, sondern es besteht nur in einer moralischen Veranlagung, die, um zur wirklichen Moral zu werden, der vorherigen Erziehung und Ausbildung bedarf. Wir sind gewissermaßen moralisch organisirt, das heißt: es sind dieses nicht alle Menschen, sondern nur solche, dereu Eltern und Voreltern während langer Zeiträume in sittlich und politisch geordneten Gesellschaftszuständen gelebt haben. Aber diese Organisation oder Anlage erhebt sich zur eigentlichen Moral erst durch Lehre, Beispiel, Erziehung und weitere Ausbildung des sittlichen Gefühls. Angeborene Moralvorschriften oder Moralgesetze bestimmten Inhalts giebt es ebenso wenig, wie es angeborene Ideen überhaupt giebt.
Daß es keine angeborenen Moralvor- schristen, kein apriorisch an- und eingeborenes Sittengesetz giebt, zeigt ein einfacher Blick aus wilde Völker wie auf unsere eigenen Kinder. Urvölker ermangeln bekanntlich fast aller jener Formen des sittlichen Gefühls, welche bei civilisirten Nationen nach und nach eine so große Macht und Bedeutung erlangt haben; und gerade die zartesten Gefühle, wie Barmherzigkeit, Mitleid, allgemeine Menschenliebe u. s. w., zeigen sich erst ziemlich spät in der Geschichte, genau so wie sich auch der Sinn für Musik, für die Schönheiten der Natur und Aehnliches erst nach und nach unter dem Einfluß der Vererbung zu seiner jetzigen Höhe und Bedeutung entwickelt hat. Im Gegensätze dazu mußten die wilden und rohen Jnstincte der menschlichen Natur aus der Zeit der Thierheit oder des Urmenschen, wie Grausamkeit, Streitsucht, Neigung zu Blutvergießen u. s. w., mehr und mehr zurücktreten, haben aber doch immerhin durch den tiefgreifenden Einfluß des Atavismus noch Gewalt genug übrig behalten, um von Zeit zu Zeit unter der Cultnrdecke hervor bei Einzelnen wie bei Völkern in einzelnen erschreckenden Beispielen, z. B. in Kriegszeiten, wieder zum Durchbruch zu kommen. Namentlich hat man Gelegenheit, diese atavistische Roh- e, Bo. VI. 34 . 29