Heft 
(1881) 298
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Büchner: Die Macht der Vererbung.

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im Sinne allmäliger, durch Vererbung bleibend gewordener Entstehung genom­men werden.

Diese Grundsätze gelten auch in ganz gleicher Weise für die Jnstincte der Men­schennatur oder für die unbewußten An­triebe der Menschenseele. Will man über­haupt von Jnstinct reden, so muß man denselben dem Menschen, wenn auch in einem beschränkteren Sinne, geradeso zu­gestehen wie dem Thier was auch gegenwärtig von allen der Erfahrung huldigenden Forschern auf diesem Ge­biete bereitwillig anerkannt wird.Wie hohl die dünkelhafte Einbildung ist," sagt z. B. G. H. Schneider (Der thierische Wille, S. 61),daß alle Handlungen des Menschen zweckbewußte und die der Thiere nur instmetive seien, das beweist die Thatsache von dem Jnstincte, der den menschlichen Willensäußerungen zu Grunde liegt."Bei allen Handlungen des Menschen zur Selbstexistenz wie zur Fort­pflanzung ist mehr oder weniger soge­nannter Jnstinct zu finden."Der Nahrungs- und Fortpflanzungstrieb, der Erwerbtrieb, der Liebestrieb, der Schutz­oder Erhaltungstrieb, die Schamhaftigkeit bei civilisirten Nationen, die Mutterliebe, der Spiel- und Nachahmungstrieb u. s. w. beruhen alle mehr oder weniger auf er­erbten Jnstincten oder Antrieben."Bei der Wahl der Mittel zur Erreichung der Selbstexistenz und Arterhaltung tritt die zweckbewnßte Geistesthätigkeit in den Vor­dergrund; die Anregung aber zu irgend einer Wahl und Anwendung solcher Mittel ist im unbewußten und zum größten Theil angeborenen Triebe, im Jnstincte, gegeben."

Einer der interessantesten und wichtig­sten Jnstincte der Menschennatur ist der moralische Jnstinct oder die angebo­rene Neigung des Culturmenschen zu mo­ralischem Verhalten. Bekanntlich leiten die Moralisten diese Neigung aus einem allen Menschen an- und eingeborenen so­genannten Sittengesetz oder Gewissen ab eine Theorie, welche in der Philosophie unter dem Namen deskategorischen Imperativs" von Kant berühmt gewor­den ist. An dieser Theorie ist etwas Wahres, aber dennoch schließt sie einen doppelten Jrrthum ein. Denn erstens ist das Moralgesetz nicht, wie jene Theore-

M onci 1 s h e ft e, N- 288. Juli 1881. Vierte FvN

tiker meinen, allen Menschen in gleicher Weise und auch nicht apriorisch oder vor aller Erfahrung eingepslanzt, und zwei­tens enthält es keine bestimmten Regeln oder Vorschriften darüber, wie zu han­deln ist, sondern es besteht nur in einer moralischen Veranlagung, die, um zur wirklichen Moral zu werden, der vor­herigen Erziehung und Ausbildung be­darf. Wir sind gewissermaßen moralisch organisirt, das heißt: es sind dieses nicht alle Menschen, sondern nur solche, dereu Eltern und Voreltern während langer Zeiträume in sittlich und politisch geord­neten Gesellschaftszuständen gelebt haben. Aber diese Organisation oder Anlage er­hebt sich zur eigentlichen Moral erst durch Lehre, Beispiel, Erziehung und weitere Ausbildung des sittlichen Gefühls. An­geborene Moralvorschriften oder Moral­gesetze bestimmten Inhalts giebt es ebenso wenig, wie es angeborene Ideen über­haupt giebt.

Daß es keine angeborenen Moralvor- schristen, kein apriorisch an- und einge­borenes Sittengesetz giebt, zeigt ein ein­facher Blick aus wilde Völker wie auf unsere eigenen Kinder. Urvölker ermangeln bekanntlich fast aller jener Formen des sittlichen Gefühls, welche bei civilisirten Nationen nach und nach eine so große Macht und Bedeutung erlangt haben; und gerade die zartesten Gefühle, wie Barmherzigkeit, Mitleid, allgemeine Men­schenliebe u. s. w., zeigen sich erst ziemlich spät in der Geschichte, genau so wie sich auch der Sinn für Musik, für die Schön­heiten der Natur und Aehnliches erst nach und nach unter dem Einfluß der Vererbung zu seiner jetzigen Höhe und Bedeutung entwickelt hat. Im Gegen­sätze dazu mußten die wilden und rohen Jnstincte der menschlichen Natur aus der Zeit der Thierheit oder des Urmenschen, wie Grausamkeit, Streitsucht, Neigung zu Blutvergießen u. s. w., mehr und mehr zurücktreten, haben aber doch immer­hin durch den tiefgreifenden Einfluß des Atavismus noch Gewalt genug übrig be­halten, um von Zeit zu Zeit unter der Cultnrdecke hervor bei Einzelnen wie bei Völkern in einzelnen erschreckenden Bei­spielen, z. B. in Kriegszeiten, wieder zum Durchbruch zu kommen. Namentlich hat man Gelegenheit, diese atavistische Roh- e, Bo. VI. 34 . 29