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heit bei Angehörigen unserer niederen Stände zn beobachten, bei denen der Einfluß fortschreitender Gesittung sich nicht in demselben Maße geltend zu machen im Stande ist wie in den höheren Schichten der Gesellschaft. Nur die stete, von Generation zu Generation fortgesetzte Vererbung sittlicher Lebensgewohnheiten kann nach und nach jenen Bestand und jenes Gleichmaß sittlichen Gefühls Hervorbringen, von welchem die Existenz der heutigen Gesellschaft abhängt. So ist das Moralgesetz nach und nach zn einem Naturgesetz geworden, weil es eine noth- wendige Folge der Natur der Dinge selbst ist und weil eine menschliche Gesellschaft auf die Dauer ohne dasselbe gar nicht bestehen könnte; es ist übrigens wechselnd je nach Lage der Umstände,
der Zeiten, der Natur der einzelnen
Völker, gerade so wie auch menschliche Satzungen über dieselben Grundregeln da oder dort sehr verschiedene Formen annehmen können.
Das ehemals angenommene angeborene Sittengesetz oder Gewissen ist selbst von den meisten Philosophen heutzutage in
das Gebiet der Märchen verwiesen.
Schopenhauer nennt es eine „Kinder- fchnlenmoral". Ein höchst bezeichnendes Licht auf seine allmälige Entstehung wirft die bei wilden Menschenstämmen gemachte Beobachtung, daß die bei ihnen geltenden Moralvorschriften sich immer nur aus den eigenen Stamm beziehen und innerhalb desselben nur um deswillen gehalten werden, weil eine Nichtbeobachtung derselben die Existenz des eigenen Stammes gefährden oder unmöglich machen würde, während fremden Stämmen gegenüber jede moralische oder Rechtsrücksicht gänzlich wegfällt und jede Art von Gräuel oder Schandthat nicht bloß erlaubt ist, sondern sogar für verdienstlich gehalten wird. Der Begriff einer allgemeinen „Menschlichkeit", eines für Alle geltenden Menschenrechtes ist erst eine Erwerbung der culturhistorischen Entwickelung der Neuzeit, obgleich auch heutzutage noch die letzten Ueberreste jener Uranschauung in dem bei internationalen Kriegen eivili- sirter Völker hervortretenden Nationalhaß und Chauvinismus deutlich genug wahrzunehmen sind.
Somit kann das Moralgesetz nicht auf
ch e M o n a ls h ef t <?.
einem Vertrag beruhen, wie die Rechtslehrer, oder auf einer angeborenen Idee, wie die Moralisten wollen, sondern es erscheint als ein echtes, durch den Zwang der Umstände selbst herbeigeführtes Naturgesetz, ohne welches, wie gesagt, die menschliche Gesellschaft einfach eine Unmöglichkeit fein würde.
Wendet man dieses auf die wichtige Frage von der Freiheit des menschlichen Willens an, so begreift man sofort, daß der menschliche Wille nicht im Sinne der alten Moralfysteme als unbedingt frei, sondern als durch eine Menge von Einflüssen gebunden erscheint — unter welchen Einflüssen als einer der wichtigsten der angeborene Charakter oder die von den Eltern und Voreltern ererbte seelische Neigung, in dieser oder jener Weise thätig zu sein oder zu fühlen, zu denken und zn handeln, erscheint. Es bedarf dies kaum einer weiteren Auseinandersetzung, da es gewiß jeder einzelne Mensch bereits hundert- und tausendmal an sich selbst empfunden oder erfahren hat, welchen beherrschenden Einfluß diese ererbten Neigungen ans sein ganzes Sein und Wesen ausüben, und wie es in den meisten Fällen trotz aller Ueberlegung geradezu unmöglich erscheint, mit Erfolg gegen diesen inneren Zwang anzukämpsen. Eine angeborene Neigung zn Trägheit oder Melancholie, oder Leichtsinn, oder Eitelkeit, oder Hoch- mnth, oder Geiz, oder Wollust, oder Trunksucht, oder Gewaltthat ist in der Regel durch keine Art von Wille oder Vorstellung zn bändigen oder zurückzuhalten, während andererseits Wohlwollen, Mitleid, Kinderliebe, Gutmüthigkeit, Gewissenhaftigkeit, Gerechtigkeitssinn einen Menschen, der vielleicht niemals von Moralgesetzen etwas vernommen hat, als echten Moralisten erscheinen lassen. Jeder Einzelne pflegt in den meisten Fällen so zn handeln, wie es feiner angeborenen Natur und Neigung am meisten entspricht, und diese angeborenen Triebe und Neigungen unserer Natur üben in der Regel einen Einfluß auf unsere Entschließungen und Handlungen ans, im Vergleich mit welchem alle anderen Beweggründe, namentlich diejenigen der Reflexion, mehr oder weniger in den Hintergrund treten. Der Jüngling opfert Alles dem Liebes- trieb, der ältere Mann oder der Geizige