Heft 
(1881) 298
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heit bei Angehörigen unserer niederen Stände zn beobachten, bei denen der Ein­fluß fortschreitender Gesittung sich nicht in demselben Maße geltend zu machen im Stande ist wie in den höheren Schich­ten der Gesellschaft. Nur die stete, von Generation zu Generation fortgesetzte Vererbung sittlicher Lebensgewohnheiten kann nach und nach jenen Bestand und jenes Gleichmaß sittlichen Gefühls Her­vorbringen, von welchem die Existenz der heutigen Gesellschaft abhängt. So ist das Moralgesetz nach und nach zn einem Naturgesetz geworden, weil es eine noth- wendige Folge der Natur der Dinge selbst ist und weil eine menschliche Ge­sellschaft auf die Dauer ohne dasselbe gar nicht bestehen könnte; es ist übrigens wechselnd je nach Lage der Umstände,

der Zeiten, der Natur der einzelnen

Völker, gerade so wie auch menschliche Satzungen über dieselben Grundregeln da oder dort sehr verschiedene Formen an­nehmen können.

Das ehemals angenommene angeborene Sittengesetz oder Gewissen ist selbst von den meisten Philosophen heutzutage in

das Gebiet der Märchen verwiesen.

Schopenhauer nennt es eineKinder- fchnlenmoral". Ein höchst bezeichnendes Licht auf seine allmälige Entstehung wirft die bei wilden Menschenstämmen gemachte Beobachtung, daß die bei ihnen geltenden Moralvorschriften sich immer nur aus den eigenen Stamm beziehen und inner­halb desselben nur um deswillen gehalten werden, weil eine Nichtbeobachtung der­selben die Existenz des eigenen Stammes gefährden oder unmöglich machen würde, während fremden Stämmen gegenüber jede moralische oder Rechtsrücksicht gänz­lich wegfällt und jede Art von Gräuel oder Schandthat nicht bloß erlaubt ist, sondern sogar für verdienstlich gehalten wird. Der Begriff einer allgemeinen Menschlichkeit", eines für Alle gelten­den Menschenrechtes ist erst eine Erwer­bung der culturhistorischen Entwickelung der Neuzeit, obgleich auch heutzutage noch die letzten Ueberreste jener Uranschauung in dem bei internationalen Kriegen eivili- sirter Völker hervortretenden Nationalhaß und Chauvinismus deutlich genug wahr­zunehmen sind.

Somit kann das Moralgesetz nicht auf

ch e M o n a ls h ef t <?.

einem Vertrag beruhen, wie die Rechts­lehrer, oder auf einer angeborenen Idee, wie die Moralisten wollen, sondern es erscheint als ein echtes, durch den Zwang der Umstände selbst herbeigeführtes Natur­gesetz, ohne welches, wie gesagt, die menschliche Gesellschaft einfach eine Un­möglichkeit fein würde.

Wendet man dieses auf die wichtige Frage von der Freiheit des menschlichen Willens an, so begreift man sofort, daß der menschliche Wille nicht im Sinne der alten Moralfysteme als unbedingt frei, sondern als durch eine Menge von Ein­flüssen gebunden erscheint unter welchen Einflüssen als einer der wichtigsten der angeborene Charakter oder die von den Eltern und Voreltern ererbte seelische Neigung, in dieser oder jener Weise thätig zu sein oder zu fühlen, zu denken und zn handeln, erscheint. Es bedarf dies kaum einer weiteren Auseinandersetzung, da es gewiß jeder einzelne Mensch bereits hun­dert- und tausendmal an sich selbst empfun­den oder erfahren hat, welchen beherr­schenden Einfluß diese ererbten Neigungen ans sein ganzes Sein und Wesen ausüben, und wie es in den meisten Fällen trotz aller Ueberlegung geradezu unmöglich er­scheint, mit Erfolg gegen diesen inneren Zwang anzukämpsen. Eine angeborene Neigung zn Trägheit oder Melancholie, oder Leichtsinn, oder Eitelkeit, oder Hoch- mnth, oder Geiz, oder Wollust, oder Trunksucht, oder Gewaltthat ist in der Regel durch keine Art von Wille oder Vorstellung zn bändigen oder zurückzu­halten, während andererseits Wohlwollen, Mitleid, Kinderliebe, Gutmüthigkeit, Ge­wissenhaftigkeit, Gerechtigkeitssinn einen Menschen, der vielleicht niemals von Mo­ralgesetzen etwas vernommen hat, als echten Moralisten erscheinen lassen. Jeder Einzelne pflegt in den meisten Fällen so zn handeln, wie es feiner angeborenen Natur und Neigung am meisten entspricht, und diese angeborenen Triebe und Nei­gungen unserer Natur üben in der Regel einen Einfluß auf unsere Entschließungen und Handlungen ans, im Vergleich mit welchem alle anderen Beweggründe, namentlich diejenigen der Reflexion, mehr oder weniger in den Hintergrund treten. Der Jüngling opfert Alles dem Liebes- trieb, der ältere Mann oder der Geizige